Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
bekannt.
Die ausgedehnten flachen Gewässer vor Neufundland wurden und werden immer, und das zu Recht, als rau, kalt, in Nebel gehüllt, von vereinzelten großen Eisbrocken und von schrecklichen Stürmen heimgesucht beschrieben. Weil die Felsen am Meeresgrund dort außerdem bis dicht unter die Wasseroberfläche aufragen, ist das ganze Gebiet voll tödlicher Gefahren für jeden Seefahrer; gerade deswegen ist ihm aber auch eine Art von beeindruckender Größe eigen: Es ist ein legendärer Ort. In den Geschichtsbüchern lesen wir, dass John Cabot in diesen Gewässern den großen silbrigen Kabeljau in solcher Fülle vorfand, dass er meinte, man könne zu seinem Fang auf das Netz oder den Haken verzichten: Ein einfacher Korb, den man über die Bordwand hinabließ, würde sich binnen einer Minute füllen, und eine weitere Minute später würde ein stattlicher, rasch mit einem Marlspieker betäubter Kabeljau schon an Deck und bald danach getötet und ausgenommen auf dem Grillrost liegen. Man hatte noch keine andere Meeresregion auf der ganzen Welt entdeckt, die derart reich an Fischen war. Es schien völlig glaubhaft, wenn Ruderer sich beschwerten, dass man in den Gewässern vor Neufundland nur mühsam vorankam, weil es dort von Fischen nur so wimmelte, und man hielt es auch für durchaus möglich, dass man, wie andere behaupteten, auf den glänzenden muskulösen Rücken dieser Tiere über die Wasseroberfläche wandeln konnte.
Die Realität war kaum weniger beeindruckend. Ich sah die Grand Banks zum ersten Mal 1963 bei Gelegenheit meiner Jungfernfahrt über den Atlantik. Als die Empress of Britain dort kurz stoppte, um auf dem seichten östlichen Ausläufer der Banks, der als Flemish Cap bekannt ist, auf ein Flugzeug zu warten, war das Meer enttäuschend ruhig und die Sicht untypisch klar. Das alles änderte sich aber, kurz nachdem wir wieder Fahrt aufgenommen hatten. Kaum lag der östlichste Punkt der Banks, die fischreichen Gewässer, die den Namen The Nose tragen, hinter uns, als dichter Nebel uns einhüllte; die See wurde unangenehm kabbelig, und wir mussten Fahrt wegnehmen, da sonst die Gefahr bestanden hätte, mit einem Schwarm Fischerboote zu kollidieren oder deren Netze zu zerfetzen.
In dieser Region dämpft der Nebel alle Geräusche auf merkwürdige Weise. Ich erinnere mich, wie ich auf Deck stand und später auf der Brückennock, die Kleider klamm von der Luftfeuchtigkeit und vor Kälte zitternd, in ihn hineinschaute und -horchte. Man hörte das Meer gegen unseren Rumpf schlagen, das sanfte Zischen des Bugs, wie er die Wellen zerschnitt. Am deutlichsten zu vernehmen war aber das Dröhnen von Dutzenden von Nebelhörnern, ein maritimer Chorgesang, der laut aus jenen Zonen erklang, wo, wie ich vermutete, der Kabeljau an jenem Tag stand, hin und wieder schwächer wurde, um dann wieder anzuschwellen, bis es schließlich zu einem endgültigen Diminuendo kam und die Klänge ganz verebbten, als wir die Untiefen hinter uns ließen und weiter auf die Südküste Neufundlands zudampften, wo wir dann in die tiefen Gewässer des Sankt-Lorenz-Golfs glitten, in denen es relativ wenig Kabeljau gibt.
Die Nebelschleier waren an jenem Tag so dicht, dass ich kein einziges Fischerboot zu Gesicht bekam. Das Bild, das ich mir vom Leben der Grand-Banks-Fischer machte, war vermutlich durch meine Lektüre von Kiplings Captains Courageous (Fischerjungs) geprägt und mehr noch von der eindrucksvollen Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1937. In einer Szene, die mir besonders im Gedächtnis haften geblieben war, kämpfen Spencer Tracy und Freddie Bartholomew verzweifelt darum, eines der beängstigend schwankenden dories , der kleinen jollenartigen Beiboote, in denen Kabeljaufischer ihrer Beute nachstellen, vor dem Kentern zu bewahren.
Dieser Film half mir, alles vor meinem inneren Auge heraufzubeschwören. Zunächst die schmucken Schoner, die von den Häfen in Massachusetts herbeiströmten. Dann die Begegnung mit Nebelbänken und Stürmen, die ersten Sichtungen von Schwärmen von winzigen Lodden und Heringen sowie von gravitätisch durchs Meer ziehenden Walen, schließlich die Ankunft der ganzen Flotte bei den Kabeljaugründen, wo die amerikanischen Fischer mit den raubeinigeren frankokanadischen zusammentrafen, die aus St. John’s und Außenposten wie Trinity und Petty Harbor herbeigesegelt waren. Dort wurden die dories dann zu Wasser gelassen, ungeachtet des Wetters und des Wellengangs, um die lange, ermüdende Jagd auf den Kabeljau zu
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