Der Attentäter - The Assassin
Emotionen beherrscht. Bald wich das Schuldgefühl dem Selbstmitleid, dann war sie von Zorn erfüllt, in erster Linie auf Harper, der ihr ihren Willen gelassen hatte. Kurz darauf war sie wütend auf Ryan, weil er nicht vor Crane in das Büro gestürmt war. In diesem Fall hätte sie nie abgedrückt. Aber es war anders gekommen, und nun lag eine Unschuldige tot am Boden.
Sie konnte es nicht fassen. Aus verweinten Augen starrte sie auf die Leiche und flehte Samantha Crane innerlich an, sie möge wieder aufstehen und sie alles vergessen lassen. Aber es war ein müßiger Wunsch. Sie hatte getötet, einen unschuldigen Menschen. Dieses Wort ließ sie nicht los, aber in Fosters Fall traf es nicht zu. Dass sie ihn erschossen hatte, erfüllte sie nicht mit Reue. Hier gab es nur ein Opfer, nämlich Crane, doch wenn die unschuldig war, wie stand es dann um sie ? Die Antwort lag auf der Hand, war aber schwer zu akzeptieren.
Sie war schuldig, hatte sich des schlimmsten Verbrechens überhaupt schuldig gemacht. Es schien unmöglich, je darüber
hinwegzukommen. Selbst wenn es Ryan gelang, Nazeri zu stoppen, was änderte das an ihrer Lage? Wie sollte sie damit klarkommen, was sie getan hatte?
Wieder brach sie in Tränen aus. Der Schock hatte etwas nachgelassen, doch sie wusste, dass sie noch nicht wieder ganz in der Wirklichkeit angekommen war. Plötzlich ließ sie ein Geräusch an der Tür aufblicken, und ihre Trauer wurde durch ein noch schlimmeres Gefühl verdrängt. Als sie mit offenem Mund den vor ihr stehenden Mann anstarrte, kam ihr der Gedanke, ob dies vielleicht eine Art göttlicher Strafe für ihre Tat war. Wenn ja, kam die Strafe der Schwere ihrer Schuld gleich.
Vor ihr stand Will Vanderveen, mit der Waffe in der Hand. Sofort fiel sein Blick auf die Pistole neben Fosters Hand, von der Ryan die Fingerabdrücke abgewischt hatte.
Er schien zu erraten, was ihr durch den Kopf ging. »Vergiss es, Naomi«, sagte er lächelnd. »Aufstehen. Wir machen eine kleine Spazierfahrt.«
Die sechsminütige Fahrt von dem Lagerhaus zur Kreuzung 48th Street und Seventh Avenue kam Kealey wie die längste seines Lebens vor. Immer wieder wurde er von unterschiedlichen Gefühlen heimgesucht. Er war wütend, weil ihm Vanderveen einmal mehr entkommen war, empfand Mitgefühl für Kharmai angesichts dessen, was sie erleiden musste, und wurde von einer zunehmenden Verzweiflung gepackt, wenn er an den Tod Samantha Cranes dachte. Er hatte sie kaum gekannt, doch sie war unschuldig gewesen und - soweit er es beurteilen konnte - eine gute FBI-Beamtin. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie sich von Rudaki hatte täuschen lassen. Und von Matt Foster, der nicht nur beruflich ihr Partner gewesen war. Eigentlich konnte er ihr nicht vorwerfen, dass sie die Wahrheit
nicht früher erkannt hatte, denn er hatte sich in diesem Punkt gleichfalls täuschen lassen, hatte auch nicht klarer gesehen. Er wünschte nur, als Erster in dem Büro gewesen zu sein, dann hätte Naomi niemals abgedrückt, und Crane würde noch leben. Eigentlich war er genauso schuldig wie Naomi.
Nachdem er auf die Eighth Avenue eingebogen war, hatte er das Blaulicht und die Sirene eingeschaltet. Während der Crown Vic des FBI Richtung Times Square raste, beobachtete er den Verkehr und die am Bordstein geparkten Fahrzeuge, aufmerksam nach einem weißen Isuzu Ausschau haltend. Ein paarmal stutzte er, doch ihm blieb keine Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hatte nur dann eine Chance, Nazeri zu stoppen, wenn er so schnell wie möglich das Hotel erreichte. Nur begriff er immer noch nicht, warum er die Explosion nicht längst gehört hatte. Eigentlich hätte es schon vor mindestens zehn Minuten so weit sein müssen. Er rechnete jeden Augenblick damit, den Lärm zu hören und die dunkle Rauchwolke aufsteigen zu sehen, die den Tod zahlloser Menschen ankündigen würden. Aber es war nichts geschehen, als der Crown Vic mit quietschenden Reifen an der Kreuzung West 48th Street und Seventh Avenue zum Stehen kam.
Das Blaulicht und die Sirene hatte er ein paar Blocks zuvor abgestellt, weil er Nazeri nicht warnen wollte, falls der sein Ziel bereits erreicht hatte. Er stieg aus und blickte sich hektisch nach dem Isuzu um, den Naomi ihm beschrieben hatte. Als er ihn nicht sah, nahm er sich einen Moment Zeit, um die Umgebung zu studieren. Das siebenundzwanzig Stockwerke hohe Renaissance Hotel, ein Gebäude aus dunklem Glas und Stahl, stand direkt zu seiner Rechten. Über seinem Kopf
Weitere Kostenlose Bücher