Der Attentäter - The Assassin
hob den Kopf und rieb sich die geröteten Augen. Kohl kam zum Tisch zurück, einen gesprungenen Becher mit starkem arabischem Kaffee in der Hand haltend. Am Vortag hatte er sein Aussehen erneut geändert, und al-Umari glaubte, nun den Kohl vor sich zu sehen, wie die Natur ihn geschaffen hatte. Der Deutsche nahm ihm gegenüber Platz und schaute geistesabwesend durch die mit farbenfrohen Buchstaben beklebte Fensterscheibe auf die belebte Straße hinaus.
Ein paar Minuten verstrichen. Menschen kamen zum Mittagessen, und bald wurden um sie herum lebhafte Unterhaltungen auf Arabisch und Farsi geführt. Es roch nach starkem Zigarettentabak und Schweiß. Als der Deutsche seinen Kaffee halb getrunken hatte, verlor al-Umari die Geduld. »Nun? Was haben Sie gesagt?«
Kohl antwortete nicht und schien al-Umaris durchdringenden Blick nicht zu bemerken. Durch die schmierige Scheibe sah er einen kleinen Jungen mit zerzaustem, in der Mittagssonne glänzendem schwarzem Haar. In der Rechten hielt er einen braunen Umschlag aus dicker Pappe, in dem sich vielleicht Autoschlüssel oder ein Handy befanden, eventuell auch beides.
Der Junge blieb vor dem Eingang des Cafés stehen und schaute hinein, als suchte er jemanden. Dann ruhte sein Blick auf einem Ecktisch, an dem ein blonder Mann mit grünen Augen saß.
Will Vanderveen wandte sich Raschid al-Umari zu und lächelte.
Tartus, eine kleine Hafenstadt am Mittelmeer, ist einer jener Orte, die eine große Geschichte, der Gegenwart jedoch so wenig zu bieten haben, dass Reiseführer und Touristen ihn links liegen lassen. Doch jede Bewertung ist subjektiv und von der Perspektive abhängig. Für Syrer sind die steinigen, mit Abfall übersäten Strände an der kleinen Bucht von Arwad eines der besseren Urlaubsgebiete ihres Landes. Sie geben sich damit zufrieden, denn die makellosen Sandstrände und das blaue Wasser von Cannes und Mykonos sind für die meisten unerreichbar.
Als sie auf der Küstenstraße in die Stadt hineinfuhren, war es noch hell, doch von Westen zogen dicke, violette Regenwolken auf. Ihr Auto, ein klappriger weißer Peugeot 504, hatte auf der Sharia Bagdad für sie bereitgestanden, der Hauptstraße von Latakia. Jetzt, auf Kohls Anweisung, parkte al-Umari den Wagen am westlichen Ende der Sharia al-Wahda. Als er die Tür öffnete, schlugen ihm sofort Kälte und der Geruch gegrillten Fischs entgegen, der aus den vielen Restaurants am Hafen drang. Die Gerüche verschwanden, als sie auf dem breiten Boulevard in Richtung Osten gingen, wobei sie an einer Reihe billiger Hotels, Bäckereien und Badehäusern vorbeikamen.
Vom Meer her blies ein böiger Wind, Vorbote des kommenden Sturms. Al-Umari fror in seinem gefütterten Anorak. Seine Garderobe ließ keine Rückschlüsse mehr zu auf seinen Reichtum und seine Londoner Jahre. Nach dem beinahe
verhängnisvollen Vorfall in Aleppo hatte Kohl ihn auf seine unpassende Kleidung hingewiesen. Jetzt trug er unter dem Anorak ein T-Shirt, Jeans und Turnschuhe, wodurch er sich kaum von den anderen Passanten unterschied. Kohls Klamotten waren ähnlich unspektakulär, doch das war nichts Neues, und manchmal hatte man bei ihm sogar den Eindruck, dass er sich alle Mühe gab, möglichst abgerissen und unordentlich auszusehen.
Al-Umaris Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Fast fünf Jahre lang hatte er auf diese Chance gewartet. Ein Blick auf Kohls Gesicht sagte ihm absolut nichts; in diesem entscheidenden Moment wirkte seine Miene wie versteinert. Er fragte sich, ob sich diese Ruhe einer natürlichen Veranlagung oder jahrelanger Erfahrung in seinem gefährlichen Geschäft verdankte. Wahrscheinlich spielten beide Faktoren eine Rolle. Nicht zum ersten Mal bedrängte ihn das unbehagliche Gefühl, dass der Deutsche eine sehr viel wichtigere Figur war, als er bisher angedeutet hatte.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Kohl ihn plötzlich am Arm packte und in einen engen Hauseingang zog. Für einen Augenblick glaubte der von Panik gepackte al-Umari, er könnte in eine Falle gelockt worden sein, doch dann begriff er, wie irrational diese Annahme war. Trotzdem atmete er wieder befreiter, als er sah, dass Kohl Türen zählte.
Schließlich blieb er vor der vierten stehen und klopfte zweimal.
In die dunkle Diele fiel nur aus dem Korridor etwas Licht. Al-Umari erhaschte einen kurzen Blick auf nackte Wände und einen zerkratzten Marmorboden, doch er wurde bereits von jemandem am Arm gepackt und in die Wohnung gezogen.
Kohl folgte ihnen
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