Der Attentaeter von Brooklyn
Wind trieb stechende Eisnadeln vom Atlantik herüber. Er blickte zum hellen Nachthimmel hinauf. Eine zerrissene Wolke schob sich vor den Vollmond, und er dachte an die Passage, die Nahid Hantasch aus dem Koran zitiert hatte.
»Die Stunde des Gerichts rückt näher, und der Mond ist in zwei Teile gespalten« , murmelte er.
Er sah sich zwischen den verrammelten Amüsierarkaden und den traurigen Fassaden leer stehender Hotels um. Das dürre Gerüst eines Riesenrads warf seine Silhouette wie ein gigantisches Folterinstrument über die Ladenfronten. Der Mond muss sich gar nicht erst spalten, dachte er, damit es so aussieht, als würde die Welt an diesem Ort enden.
Omar Jussuf ging über die Avenue bis zu einer Seitenstraße neben einer Achterbahn. Ein langes Schild, das vom höchsten Punkt der Bahn herabhing, sagte ihm, dass sie der Cyclone war. Er starrte ins klapprige Gewirr der Holzverstrebungen und weiß gestrichenen Balken unter den Schienen und rüttelte an der Kette des hohen Wellblechtors. Auf der anderen Straßenseite blickte er durch einen Maschendrahtzaun auf die dahinterliegenden Fahrgeschäfte. Nicht einmal die Schneehauben konnten den Autoskootern, Piratenschiffen und Shrimpsbuden eine Aura verleihen, die ihrer winterlichen Schäbigkeit die Stirn geboten hätte. Alle Karussells hatten lachhafte Namen, die Erfahrungen verhießen, die über ihre bloße Mechanik weit hinausgingen. Er sah, dass das große Riesenrad Das Wunderrad hieß, als würde es sich kraft eines Wunders drehen und in eine Höhe aufragen, die zuvor noch kein Mensch bewältigt hatte.
Er ging um den Zaun herum, bis er an eine zum Boardwalk führende Holzrampe gelangte. Der Wind schnitt ihm ins Gesicht, und ein paar Möwen schwebten schwarz vorm Mond. Die Vögel waren lautlos, und Omar Jussuf fragte sich, ob sie im Fliegen schliefen. Jenseits des Strands rollte das schiefergraue Meer und machte ein Geräusch wie das erstickte Atmen eines unruhigen Schläfers. Die verrammelten Pizzabuden auf dem Boardwalk mit ihren grellen Reklamen für italienische Würstchen und kaltes Bier empfand Omar Jussuf als zu unappetitlich, um Essen anzupreisen. Als er die breite, verlassene Promenade entlangblickte, hatte er weniger den Eindruck eines Orts, an dem man seine Freizeit verbringt, als vielmehr den, sich im ständig wiederkehrenden Albtraum eines einsamen Depressiven zu befinden.
Omar Jussuf entdeckte auf dem Boardwalk kein Schild für das Playland und ging deshalb zur Avenue zurück. Die grünen Neonlichter eines Eckrestaurants, das für seine »berühmten« Hotdogs warb, zogen ihn an. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass es für seine Verabredung um 22 Uhr noch fünfzehn Minuten zu früh war. Seit er vor dem Polizisten vorm Café al-Quds geflohen war, hatte er nichts mehr gegessen, und er verspürte plötzlich Hunger. Er fragte sich, wie wohl ein Hotdog schmecken würde.
Das Restaurant war hell erleuchtet und voller Leute, die alle die gleichen gestreiften Hemden und grünen Mützen trugen. Sie hockten in Gruppen an den Tischen und schoben sich blasse Brötchen der Länge nach in den Mund. Aus dem Brot tropfte fahlrote Sauce auf ihre Hände. Die flüchtigen Eindrücke von Gemütlichkeit, die er durch die Schaufensterscheibe erblickte, erweckten in Omar Jussuf ein Gefühl der Verlorenheit. Er fürchtete, dass die Essenden in Schweigen verfallen würden, wenn er das Restaurant beträte, weil sie die Einsamkeit, die er wie ein Lepröser mit seiner Glocke um sich verbreitete, sofort wahrnehmen würden. Ihn durchzuckte ein Hassgefühl, und er begriff, dass es auch ihn treffen könnte – jene Ablehnung, die arabische Einwanderer wie Nahid Hantasch, der in seiner Moschee vor sich hin brütete, dazu brachte, die amerikanische Gesellschaft zu verachten. Er erinnerte sich an den Kassierer am Fahrkartenschalter, der ihn beschissen hatte, und er spürte, dass die Beleidigungen dieses Mannes immer noch in ihm nachwirkten – ein kleines Stressgerinsel, dass sich plötzlich in seinem Gehirn festsetzen und ihn zerstören konnte. Die Essenden verstörten ihn, weil sie mit Menschen, die sie mochten, an einem Ort waren, an den sie gehörten, während er draußen vorm Fenster in der Kälte stand, allein und fern von zu Hause.
Er ging unschlüssig den Gehweg entlang, seine Schritte brachen knirschend durch eine dünne Schneedecke, die niemand weggeschaufelt hatte und deren Oberfläche der Wind gefrieren ließ. Die Gebäude schienen hier völlig verlassen und
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