Der Aufgang Des Abendlandes
ordinären Kampf ums Dasein. Allerdings nur scheinbar,
denn der Idealismus züchtet eine höhere Art neben den ihm völlig ungleichen Vielzuvielen. Wie aber dies
Züchten im vollsten Widerspruch zur Materie möglich sei, vor dieser Problemstellung muß selbst der
denkunfähigste Materialismus die Waffen strecken.
Im Grunde beruht er wie der gegenstandslos gewordene kirchliche Aberglaube auf Personenglauben, indem er die Materie wie
eine konkrete Person unterschiebt. Indessen ist sie so wenig konkret wie das Ich, sondern nur ein abstrakter Schulbegriff
für das sinnlich Wahrnehmbare, so verschwommen und trügerisch, daß es sich durch nichts beweisen
läßt als wieder durch sinnliche Eindrücke. Helmholtz sagt einmal: Wenn er sich an den Tisch stoße, so
sei diese Materie doch da und nicht wegzudisputieren. Aber nichts ist an und für sich da als der subjektive Eindruck auf
die menschliche Haut, und die Immunität des Fakirs gegen viel gefährlichere schmerzhafte Angriffe lehrt
genügend die Unzuverlässigkeit der Empfindung. Denn wenn ein Zustand möglich ist, wo die sonst
erfahrungsmäßigen Bedingungen aufgehoben werden, so zeigt das materielle Fühlen ein Janusgesicht, das sich
nicht unter einen Hut bringen läßt. Ob also die Kirche einen persönlichen Gott oder die Naturforschung die
persönlich empfundenen Naturphänomene anbetet, so bleibt beides gleich anthropomorphische Einbildung. Ob die
»Natur« nichts als subjektiver Schein oder halbe Wirklichkeit sei, keinenfalls kann sie mehr als relativ sein,
gerade weil wir sie nur sinnlich wahrnehmen und doch das Unvorstellbare zu erkennen glauben. Denn Materie als
Allgemeinbegriff ist gerade so sinnlich unvorstellbar wie das Transzendentale, der Physiker also ein ähnlicher Charlatan
wie der Theologe, sobald beide etwas sinnlich Vorgestelltes mit naiver Gewißheit als positiv »offenbart«
unterschieben. Wer verderblicher, Wissenschaftspfaffen oder Priester, läßt sich kaum entscheiden, beide sind
Früchte vom gleichen giftigen Upasbaum der Verblendung. Nur wer ihm den Rücken wendet, wird Byrons Vers »der
Baum der Erkenntnis ist nicht der des Lebens« umprägen: wahre Erkenntnis ist das ewige Leben.
Descartes' »Ich denke, daher bin ich«, heißt ebenso klar: Ich bin, daher denke ich. (Sein und Denken
sind das nämliche, selbst die Pflanze denkt: je höher das Denken, desto höher das Sein.) Schon er erkannte,
daß Bewegung und Ruhe nur Zustände, nicht Gegensätze sind, Licht nur Ausstrahlung unwägbarer Substanz,
Sehkraft in Gehirnmolekülen verlegt. Ja, natürlich! Jedes auf wahres Naturschauen eingestellte Auge schaut immer
nur Einheit: Von Bewegung mit Ruhe, von Licht mit Äther, von Auge mit Licht, von äußerem Augennerv und
äußerem Licht mit innerem Gehirnlicht! Die Ameise aber denkt nicht mit einem Hirn, sondern einem Klümpchen
Rückenmark, die Insekten haben mehrseitige Augen, sehen also Welt und Farben anders als das angeblich mit einem Streifen
Farbensubstanz ausgestattete Menschenauge, dem Papagei lösen nicht Brocasche Windungen die Zunge, obschon es sich auch
bei ihm lediglich um Gehirnvorgang handelt. Das Pferd mit seinem großzügig konstruierten Hirn scheint einen
sechsten Sinn zu besitzen, der vor uns unsichtbaren Dingen »scheut«. Anatomie menschlicher Gehirnfunktionen ist
daher denkerisch zwecklos, weil die Psyche höherer Tiere auf anderer Basis beruht und die nämliche Allvernunft sich
ihnen in anderer Weise mitteilt. Sie als »Automaten« zu betrachten wie Descartes oder sie mit dem fiktiven
Begriff »Instinkt« abzuspeisen ist Rückständigkeit, übrigens auch ein Schlag ins Gesicht
monistischer Erkenntnis.
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Schon Goethe wußte, daß »Licht und Auge das nämliche« seien, doch Herder ahnte mehr:
Gleichheit von »Licht, Äther, Lebensbewegung«. Unter gewissen Umständen erzeugen die Ätherwellen
Licht, unter andern Elektrizität, unter wieder andern organisches Leben und hieraus in Steigerung der Bewegung alles
Immaterielle des Lebensprinzips, nämlich Vernunft, Idee, Genie, d. h. den »höheren Manas« der Inder,
untrennbar vom Weltäther. Dagegen hilft Ausdeutung der Farben als Lichtschwingung nichts für unser eigenes
Weltbild, denn die Farbenempfindung ist rein subjektiv und je nach Stellung des Auges und Anlage des Hirnnervs verschieden.
Die Physik leistet also wieder nichts als Beschreibung eines Vorgangs, der selber keine objektive Wirklichkeit bedeutet. Rot
erregt die Rinder
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