Der Aufgang Des Abendlandes
unbedeutender Tatsachen zu überschätzen.« O Buckle, wo bliebe dann der
Philisterrespekt vor Spezialisten, die Heiligkeit der Professorenmittelmäßigkeit? Dieser Unhöfliche nennt es
Folge unvollkommener Bildung, denkt ketzerisch genug, die göttliche und prophetische Kraft des Dichtens anzuerkennen.
»Wir brauchen Gedanken und erhalten nur Tatsachen«, welch ein Wort! Die aufgespeicherte Masse von Beobachtungen
bleibe gänzlich nutzlos, bis sie »unter einer Idee verbunden werden.« Wort für Wort zu unterschreiben,
nur hätte er dann sein Buch ungeschrieben lassen sollen, wo massige, doch sehr unvollständige Dokumentierung nicht
wirklichen Ideen, sondern willkürlichen Voraussetzungen dient. Was man am wenigsten braucht, sind falsche
Halbgedanken.
Leslie († 1832) bekannte – als er Identität von Wärme und Licht lehrte, ohne ihre Polarität
experimentell zu kennen –, seine genialen Grundsätze unter Einfluß der Poesie gefaßt zu haben: Die
Wahrheit der Dichter, dieser vollendeten Beobachter, stände der Wissenschaft nicht nach. Jawohl, nur Verbindung
umfassenden Wissens mit »Dichten« erzeugt wahres Wissen und Denken. Leslie bietet dafür das sprechendste
Zeugnis, man sieht ihn in Zukunftskenntnisse vorauseilen: »Wir sollten gedenken, daß die Natur eine
lückenlose Kette entfaltet, daher systematische Einteilungen und Begrenzungen nur künstlich sind und dazu dienen
sollen, das Gedächtnis zu unterstützen.« Noch klarer baut er dies aus: »Alle Kräfte sind radikal
von gleicher Art, ihr Unterscheiden in lebend und tot nicht auf richtigen Prinzipien begründet.« Und siehe da,
Buckle selber wirft den Physikern vor: »Mit ihren veralteten Begriffen sehen sie nicht, daß alle Materie
lebt.« Und doch erniedert er den individuellen Menschen zum Milieuprodukt! Wehe, wenn du erfährst, was du bist!
rief die Sphinx dem Ödipus zu, so warnt falsche Wissenschaft den Gläubigen, er sei ein Lehm-Golem, jener Prager
Rabbi der Sage stieß den Golem ins Nichts zurück, indem er die Talismankapsel des Lebens von ihm ablöste. Die
Natur verfährt aber nicht so gewaltsam, verübt keine Vivisektion, beleidigt nicht das Leben zur Ehre der
Wissenschaft, sie schenkt dem Golem den Talisman schon bei seinem Entstehen, und daß sie ihn durch Tod
zurückfordere, ist beweislose Behauptung:
Wie Leber und Lunge sich ergänzen bei Ausscheidung von Kohlenstoffüberlastung, Leber aber das Ursprüngliche
im Embryo ist und Lungen erst später zuwachsen, so muß die Natur stets ergänzen und korrigieren wie ein
Künstler, ohne deshalb die großen Richtlinien zu verrücken. Man höre Buckles erstaunliches
Zugeständnis, für die Menschheit seien die »geistigen« Gesetze wichtiger als die
»natürlichen«! Stellt man den Satz Raids »notwendige Wahrheiten können nicht aus Sinnlichem
geschlossen werden, denn die Sinne bezeugen, was ist, nicht was sein muß«, dem Satz Joberts entgegen,
»daß notwendige Wahrheiten durch Erfahrung nicht erlangt werden können, heißt das klarste Zeugnis der
Sinne verleugnen«, so ist letzteres offenbar unlogischer als ersteres, denn die Sinne bezeugen nicht, was ist, sondern
was scheint. Der Transzententalist Kant wird sich gelegentlich untreu: »Metaphysik wirbelt Staub auf und beklagt sich,
man könne nicht sehen.« Störte er keinen Staub auf, wenn er in langstilig verschachtelter Parentheseperiode
das Urgeheimnis darin sieht: Ich als denkendes Subjekt erkenne mich selbst als gedachtes Objekt. Was ist denn dabei! das tut
wohl selbst die Pflanze, wenn man für »Denken« das richtigere »Empfinden« setzt, unser Selbst
»erkennen wir« weder subjektiv noch objektiv, nicht mal unsern Körper. Die schon Plato bekannte Tatsache,
daß männliche Körper weibliche, weibliche Organe männliche Psyche beherbergen können, was
Konträrsexuales erklärt, erlaubt den Schluß, daß Physisches im Organismus keinen, Psychisches
bestimmenden Einfluß hat. [Fußnote]Das überwiegend Psychische der Mutterschaft gleicht dem Genie, weil sie
von allen Dingen seelisch beeindruckt schwanger wird, amo ergo sum, Weisman spricht sogar von Fernzeugung. Goethe,
»Über Spiraltendenz der Vegetation«, unterscheidet männlich Vertikales und weiblich Spirales, Fechner
bestreitet Arbeitsteilung der Zweigeschlechtlichkeit.
Kant schwärmte für Bund freier Völker (das Echo spottet »Völkerbund«) und ewigen Frieden,
»auf diese Art garantiert die Natur durch Mechanismus in den
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