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Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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Varianten, diese aber sind insofern nicht überpersönlich, als sie aus Verschiedenheit persönlicher Psychen
entspringen. Logik: Auch unendliche Verschiedenheit ist das Gegebene, die Varianten der Materie sind psychische Akte.
Kayserling erkennt im »Gefüge der Welt« ganz richtig, daß die Arten sich nicht evolutionieren, sondern
als Korrelate physikalischer und chemischer Bedingungen nur modifizieren. Das will heißen: äußerliche
Veränderung ist nur zweckdienliches Reagieren suf Materieeinflüsse ohne innere Umarbeitung. Daß die
systematisch gegliederten Einzelwesen den Zellen und Organen eines Einzelwesens vergleichbar seien, lehnt Kerle ab, denn die
Zellen seien direkt verbunden durch nervöse Leitung, die Einzelwesen untereinander nicht. Ist dies so sicher? Sind die
von einem Wesen zum andern übergehenden Strahlenströme nicht auch Verbindung, lebt nicht vielleicht jede Zelle ein
Einzelleben, das sich im Unbewußten abspielt? Naiv wettert Kerle gegen Teleologie: »Ließ Gott Bismarck zur
rechten Zeit auftreten, warum ließ er ihn zu unrechter Zeit abtreten?« Als ob Deutschlands Wohl eine spezielle
Aufgabe Gottes sein müßte! Immer wieder Anthropomorphismus, mit dem der Einzelmensch eine Gottabsicht nur in
Befriedigung seines Egoismus erkennt. Bismarcks Abtreten war nur eine Episode in unaufhaltsamer Verschlimmerung der deutschen
Lage durch eigene Charakterschuld, zu der Bismarcks eigenes amusisches »saturiertes« Treiben beitrug. Ob
Deutschlands Leiden dazu dienen soll, es selbst zu bessern und zu kräftigen, ist zweifelhaft, die moralische Weltordnung
könnte man nur anklagen, wenn es ein Ausbund von Vortrefflichkeit wäre, wie alldeutsche Professoren ihm einredeten.
Selbst dann aber, würde die Weltgerechtigkeit nicht in die Brüche gehen, denn die Welt dreht sich nicht um das
kleine Deutschland, dessen politischer Niedergang vielleicht von Nutzen für allgemeine Weltökonomie wäre, wie
auch Hellas' selbstverschuldetes Unglück den kosmopolitischen Hellenismus förderte. Obendrein ist Deutschlands
dauernder Sturz kaum denkbar. Teleologie wird nur dann anfechtbar, wenn sie im Sinn der Kirche sichtbare Belohnung und
Bestrafung in Aussicht stellt. Wer sagt denn, ob es für Bismarcks väterlichen Nationalruhm nicht ein Glück
war, daß er abtreten mußte und die Deutschen pietätvoll wähnen: Ja, wenn Bismarck länger regiert
hätte! Am Unabwendbaren hätte auch er nichts geändert, sein Werk unterliegt vorbestimmter Kausalität,
deren tiefsten Endzweck »göttlicher Notwendigkeit« wir nur ahnen, nicht kritisieren dürfen.
    Driesch verwässert die ethische Anlage, indem er Sittlichkeit nur in Beziehung zum überpersönlichen Ganzen
möglich hält. Einreihung der Ethik, die so selbständige Würde verliert, nur in übersinnlichem
Zweckzusammenhang ist unnötig. Denn so fest wir darauf bestehen, daß Entstehen der Ethik erst auf Gotterkenntnis
und Unsterblichkeitsglauben folgte und sie ohne solche Voraussetzung keinen sichern Boden hat, muß gleichwohl bedacht
werden, daß seither die Vorstellung des Sittlichen, d. h. Gerechtigkeit und Selbstentäußerung tiefer Wurzel
faßte, jetzt also ein gewohnheitsmäßiger Hemmungstrieb gegen das Unsittliche wurde. Wenn trotzdem das
Unsittliche äußerlich triumphiert, so würde die Schlechtigkeit der Durchschnittsmenschen ohne solche
Schranken noch wachsen. [Fußnote]Wie groß sie ohnehin, zeigt pietätlose Gemütlosigkeit der Bauern gegen
ihre aufs Altenteil gesetzten Eltern. Rousseaus »Naturmenschen«! Nun behauptet Kerle umgekehrt: der geistige
Mensch sei nicht Mittel, sondern Selbstzweck, Mittelpunkt des Universums. Pflicht des Subjekts nur gegen sich selbst? Etwa
gegen den »im Wert erlebenden Subjekt selbst zu realisierenden Wert«? Wenn dieser hohe Geisteswert es als Pflicht
empfindet, rücksichtslos alles im Wege Stehende zu zertreten? Hier sieht man wieder die Nichtigkeit des
Verallgemeinerns, denn unstreitig empfanden so Cäsar und Napoleon aktiv, Goethe und R. Wagner passiv, dagegen beugten
sich Friedrich und Cromwell der Staatspflicht, Leonardo und Byron fühlten impulsiv Pflichten der Güte und
Großmut. Es gibt also keine gleichmäßige Pflichtauffassung, keine bestimmte Wertbeständikgeit
seelischer Valuta, die Ethik notiert sehr verschieden im Kurszettel, gleiche Geistquantitäten haben sehr
veränderliche Qualitäten. Vielmehr ist bemerkenswert, daß überhaupt Ethik unter Lebewesen waltet,
daß Bienen und

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