Der Aufgang Des Abendlandes
doch nie
deren Empfindung sehen könnten, und Empfindung ist immer Dasjenige, wodurch sich die Psyche bemerkbar macht. Chemische
Gleichgewichtsstände bezeugen, daß bei Verbindung zweier Stoffe nicht die ganze Masse ein Neuprodukt wird, sondern
Reste des Ursprünglichen zurückbleiben. Indem sich Körperliches und Gehirnmasse verbinden, bleibt ein drittes
übrig, kein schäbiger Rest, sondern ein regulierendes Prinzip, Wenn die Ganglienzellen ohne Sauerstoffzufuhr aus
Erschöpfung ermüden und sich dabei Milchsäure bildet, so beweist dies weiter nichts, als daß der
Hirnapparat an sich als körperlicher Faktor arbeitet. Erregung, Lähmung, Assimilierung, Dissimilierung im Hirn,
Zellulareinheit von Ganglienzellen und Nervenfasern als Leitungsorgane sind an sich Vorgänge wie bei jedem andern
Körperorgan. Besorgen da aber Lunge, Magen, Leber ihre Arbeit selbständig? Natürlich nicht, sondern als
dienstbarer Apparat des allgemeinen Organismus, genau so das Hirn, das ohne Blut und Nerven überhaupt nicht
funktionieren könnte. Wir gehen so weit, Empfinden mit Nahrungsaufnahme und Wahrnehmen mit Verdauen zu vergleichen, doch
das Geschenk können wir den Naturalisten nicht machen, den Vergleich aufs Denken auszudehnen. Verdauen und Atmen sind
konstante immer wiederkehrende Automatismen, Denken aber bewegt sich in fortwährender beispielloser Progression, selbst
Lichtgeschwindigkeit verläuft nicht schneller als blitzartiges Auftauchen und Fortsetzen von Gedankenreihen, die einen
unendlichen Kreis neuer Vorstellungen durchlaufen. Wie ist das möglich? Nur wenn ein unbekanntes Drittes mitspielt. Da
sich bei den Neuronen »elektrische Vorgänge nachweisen lassen«, da ferner die Ganglienzellen nicht wie die
meisten andern Körperzellen sich nach der Geburt quantitativ vermehren, wohl aber qualitativ ihre Masse entwickeln, so
stehen wir vor einem verwickelten Naturprozeß, der aber in keiner Weise dartut, wieso eine unsichtbare rastlose
Bewegung aus ihm entsteht, während doch sichtbare körperliche Bewegungsfähigkeit recht beschränkte
Grenzen hat.
Die Schlaferklärungen von Pflüger, Preyer, Strümpell laufen auf das hinaus, was schon der Urmensch
wußte, daß Schlaf durch Ausschluß der Sinnesreize eintritt und natürliche Erholung des
überangestrengten Bewußtseins bedeutet. Das Träumen erörterten wir ja ausführlich, hier gibt es
zuwidere Kindereien so gut beim Rationalisten wie beim Abergläubischen. Wenn äußere Anreize dem Schlafenden
Traumbilder wecken, so tun es erst recht innere Erregungen bei Krankheit und Leidenschaft, somit ist falsch dies richtige
Bewußtseinsvorgänge partiellen Wachzustands zu nennen, denn diese sind ja von vielfältigen
Sinneseindrücken untrennbar. Wenn ein einzelner schwacher Ton- oder Lichtreiz große dimensionale
Übertreibungen von Hör- und Sichtbarem als Traum weckt, so ist dies schon recht wunderbar, doch meist wirken solche
äußern Reize gar nicht in der betreffenden Richtung, sondern es werden unbegreifliche Trugbilder an ferne Personen
und Lokalitäten wachgerufen, die sich nicht mit Ton und Licht berühren. Nur Leute ohne eigene Traumerfahrung geben
sich mit mechanistischer Deutung zufrieden, gleiches gilt von der Hypnose, die laut Verworn ein gewöhnlicher Wachzustand
sein soll, bei dem nur kritische Selbstkontrolle eingeschläfert wird, jede Erhöhung seelischer Fähigkeiten sei
Täuschung oder Selbsttäuschung. Das sind leere Behauptungen, da bei hochgradigen Somnambulen ein kataleptischer
Zustand ohne fremdes Zutun erfolgen kann und Umwandlung oder Erhöhung seelischer Eigenart sehr oft beobachtete Tatsache
ist. Telepathie wird natürlich einfach totgeschwiegen, am Schluß aber vorsichtshalber versichert, dies sei kein
materialistisches Unternehmen. Was ist's dann? Gelehrte Täuschung oder Selbsttäuschung, den Hirnapparat mit dessen
Beweger zu verwechseln, als ob durch ein Seziermesser die Person des Chirurgen erklärt würde.
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Sich selbst verstehen gewinnt Zutritt zum »Sinn aller Dinge« (Kayserling), doch Tatsachenerweiterung okkulter
Erfahrung schenkt auch nur eine neue Außenansicht, Erkenntnistheorie führt gründlicher zu Sinnvertiefung und
Selbstverwirklichung. Sobald man sich in eine neue okkulte Tatsachenwelt verliert, veräußerlicht man einen neuen
Materieschein. Dem nicht sinnlich gefesselten Denken sind alle Phänomene vertraut, die durch die Sinne kanalisiert
werden, während das universale Sammelbecken
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