Der Aufgang Des Abendlandes
Willens- und Denkakt beobachtenden Nachsinnens? Warum erwies
sich nur die Menschenstimme, ursprünglich Lallen des Säuglings, so modulationsfähig, daß sie immer mehr
bestimmte Laute zu Worten formte? Was sind Worte? Formeln für Begriffe. Je mehr Begriffe und Gegenstände in den
Kreis der Betrachtung traten, desto mehr Worte entstanden und so zuletzt umfangreiche Sprache als Zwecktätigkeit
unermüdlichen Wollens und Denkens. Wollen und Denken sind das nämliche selbst bei untersten Lebeformen, Wollen ist
nichts als empfundenes Denken. Daß aber Sprechen ein unabhängiger Akt, zeigt schon die Entdeckung, daß
Sprachfähigkeit einer bestimmten Gehirnwindung entspricht, die sich immer feiner ausbildet, je mehr das Rede
bedürfnis steigt. Reden selber ist das Sekundäre, die Stimme ein Handwerkszeug. Bisher fehlt es jammervoll an
genügender Hirnsezierung vieler bedeutenden Schädel, wir stellen als sichere Wahrscheinlichkeit auf, daß die
Brocasche Windung, bei Polyglotten nie besonders entwickelt, keineswegs nur bei Rhetoren, sondern bei allen Schriftstellern
und besonders Dichtern sehr entwickelt sei, obschon diese ihr eigentliches Reden lautlos am Schreibtisch vollziehen, also
unhörbar im Reich des Unsichtbaren. Somit bedarf es keines Beweises mehr, daß das Reden sich nach psychischer
Regsamkeit richtet.
Ziel- und zweckloses Entstehen aus zufälligen Änderungen der Umwelt wäre Selbstwiderspruch, weil jedes
Wesen ins Leben tritt mit Zweckwillen eines bestimmten eigenen Lebens. Was den Einzelnen absondert von den andern Ichen, ist
die Einzelart als Individualtyp inmitten anderer Gattungen, aus denen sie weder entstand noch von ihnen abhängig ist.
Wenn Rechenberg schließt, der gegebene Wille habe sich eben den Körper gebaut, den er zur Ausführung seiner
»ihm vorschwebenden oder ihm vorgezeichneten Zwecke bedurfte«, so ist das »oder« in ein
»und« zu verwandeln, denn das transzendente Ego unterwirft sich Karmabestimmung und ist zugleich mit ihr eins.
Plötzliches Entstehen neuer Formen, wie Fossilfunde es nahelegen, wäre mechanisch unerklärlich, dagegen
verständlich als spontaner Willensakt. Übrigens kommt nicht viel darauf an, ob Mensch oder Art sich selbst ihren
konstanten Körper verabreichen – was man als hypermetaphysisch verwerfen mag –, sondern darauf, daß
jedes Bewußtsein sich nur als Lebensempfindung meldet und weiter nichts. Mit den Unterscheidungen
»mechanisch« und »geistig« wird von der Wissenschaft Schindluder getrieben, denn Kampf ums Dasein,
Anpassung, Selektion sind ja lauter Willensakte, also nicht automatisch, und wenn das Geistige wohl oder übel als
Tatsache anerkannt wird, so wäre es selber eine Anomalie in materieller Mechanik. Ebenso wirr schließt man aus
Kontinuität äußern und innern Geschehens auf steigende Evolution. Die Sprache z. B. bereichert sich
fortwährend, indem sie für neugefundene Gegenstände neue Worte findet. Das Altenglische besaß wohl nur
2–5000 Worte, Shakespeare hat 15+000. Glaubt man aber, diese 15+000 würden sonst von irgendwem angewendet? Der
englische Volksmensch besitzt auch heute schwerlich mehr als 2000 Worte. Auch ist der Unterschied der englischen Welt- oder
der Hottentottensprache nur relativ, beide dem Milieu angemessen; das allein Wesentliche ist die Mitteilungsfähigkeit
selbst, und die besaß sicher schon der Urmensch am La Plata, es deckt sich mit Menschwerdung überhaupt.
Sumero-Akkader, Altägypter, Inder besaßen schon eine so reich ausgebildete Sprache, daß ihre Ahnen bis zum
Neandertaler schon sehr sprachkundig gewesen sein müssen. Und was zeigt die Kontinuität eines Menschenichs? Eine
Konstante, wenn nicht eher absteigende Linie. Im Kindeskörper der ersten sieben Jahre zeigt Geistiges sich regsamer als
je nachher, beim Tier fällt dies so auf, daß die Anthropoiden nur jung sogenannte Menschenähnlichkeit dartun
und um so dümmer und boshafter werden, je mehr ihr Alter fortschreitet, während der gutartige Mensch gerade im
Alter abgeklärtes Wohlwollen erwirbt. Wenn laut Schopenhauer »das Genie« (richtiger allgemein: Geniale und
Idealisten) zeitlebens ein »Kind bleibt«, d. h. die frische geistige Empfänglichkeit der ersten Lebensjahre
bewahrt, so kehrt dies gründlich die seelische Verfassung des Orang um! Im ganzen aber bleibt nicht nur der
Durchschnitts-, sondern auch auch der große Geistmensch unverändert. Daß sein Charakter sich in
äußerer Betätigung durch
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