Der Aufgang Des Abendlandes
sich nicht voll mit der Wahrheit, denn ein Palast wird eben Stück
für Stück bis zum Giebel von außen her gebaut, während das sichtbare All vielleicht so plötzlich
aus dem Äther aufsteigt, wie Byron Venedigs Paläste aus den Wogen sich erheben sieht »unter dem Schlag eines
Zaubererstabs«. Daß die unendliche Vorstellungskraft der Weltpsyche unendlich langsamer Arbeit bedürfe, um
sich zu veranschaulichen, ist nur Vorstellung menschlicher Ohnmacht. Die Weltordnung hat mehr zu besorgen und zu bemuttern
als das bißchen Erde, dankt aber nicht einen Augenblick ab, um statt ihrer ein beliebiges Entwicklungsgesetz mechanisch
laufen zu lassen. Da Geist und Energie in allen Lebeformen – und alles ist Leben – gleichmäßig wirken,
so wäre wahrlich kein Grund vorhanden, auf künstlichem Wege in unendlichen Zeiträumen die dem Erdleben
nötige Vollständigkeit aller Formen herzustellen.
Wann, wie, wodurch der erste Mensch entstand, darüber zu grübeln entbehrt jeder Wichtigkeit. Genug, daß er
war und ist als diejenige Form, in welcher die Erdpsyche sich am stärksten bewußt wird und Individualverlangen
jedes Lebewesens sich am schärfsten ausdrückt. Physisch hat er nur Relativitätswert im Vergleich zu andern
Formen, psychisch überragt er die Ameise nicht, die in ihrer besondern Weise gleichfalls die physische Natur zu meistern
sucht. Denn warum beißt sie sich die Flügel ab und läßt nur einzelne Beschwingte zu Botenzwecken
bestehen? Das ist auch eine Variante, doch ohne jede Beziehung zu organischer Entwicklung, sondern als Willensakt der
Ameisenvernunft. Wie sie die organisch verliehenen Flügel abstreift, weil sie es für ihr Staatswesen
zweckmäßig erachtet, so hat der Urmensch – wenn er je affenähnlich lebte – lediglich durch
eigenen Willen das Tierische abgestreift, das ihm für sein Fortkommen hinderlich schien, ohne seine Grundnatur physisch
zu ändern, die sich nach wie vor um Ernährung und Fortpflanzung dreht (Hunger und Liebe). Was darüber
hinausragt, erschien freilich nach unserer Meinung schon seit Anbeginn als Ahnen und Nachdenken. Das hat aber nichts mit
angeblicher Verbesserung des Hirns gemein, denn das dort tätige Verstandesbewußtsein ist so unreif, daß die
Staatsweisheit der hirnlosen Ameise sich über menschlichen Unverstand wundern würde. Er hat nicht die
Fähigkeit, sich unnütz gewordene Flügel abzubeißen, eine für alle Mitglieder zuträgliche
Gesellschaft zu bilden wie sie. Sein Vorzug liegt also nicht im Verstande, worin ihm genau betrachtet jedes Lebewesen
ebenbürtig, so weit es sich um Erfüllung des Struggle for life handelt. Was ihn auszeichnet, ist besondere Bosheit
des Willens, der das naive Naturfressen aus reinem Hungerzwang in Raffiniertheit unheilbarer Selbstsucht »Stirb du,
damit ich lebe« steigerte, er bezeichnet die äußerste Spitze des Individuellen in üblem Sinne, unter
welchem Gesichtspunkt Buddha jedem Ich Tod und Verderben schwor. Sich als Krone der Schöpfung anzupreisen entspricht
seinem Größenwahn, denn der von »Tamas« oder »Rayas« gegängelte Schulze ist eher ein
Schandfleck der Weltpsyche, ethisch niedriger als Schlange und Schwein, sein Individuelles stellt nicht eine höhere
Entwicklungsstufe dar, sondern das Gesetz unendlicher Ungleichheit, das in allem Sichtbaren wirkt und ein Nebeneinander
unzähliger Formen fordert. Die Menschheit besteht aus lauter Varianten trotz ermüdender Einförmigkeit der
Masseninstinkte. Regungen von Fuchs, Schlange, Marder, Schwein, Schaf, Rindvieh wechseln in Millionen menschlicher
Individualitäten. Aus rätselhafter Neigung bestimmter Frauen für die Schlange folgert aber gewiß nicht,
daß sie sich aus der Schlange entwickelten und alte Verwandtschaft spüren. Nur individuell Schlangenhaftes
seelischer Triebe fühlt sich angezogen. Nur das Streben nach Variation, das die ganze Natur durchzieht, brachte im
Menschen ein Phänomen hervor, das er mit gewohntem Erwerbssinn für sich stiehlt, wie der Rabe etwas Glitzerndes,
für das er doch persönlich keine Verwendung hat. Die Weltpsyche hielt für angemessen, gewisse Emanationen
höherer Äthersphären als Menschen zu individualisieren, bei denen das Psychische derart überwiegt,
daß ihr Bewußtsein weit über das Menschliche hinausstrebt und sich mit dem schöpferischen Willen des
Unsichtbaren vermählt. Es ist das Phänomen des Genialen und Idealisten, das schon den Urmenschen antrieb, sich in
der Materie
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