Der Aufgang Des Abendlandes
Unschuldsengel. Der Sieg des Unrechts sieht fast immer so aus, daß Energie und Klugheit über
feige Faulheit und Dummheit Herr werden, ohne daß zwischen Siegern und Besiegten ein ethischer Unterschied obwaltet.
Geschähe jedem nach Recht, wer wäre vor Prügeln sicher! sagt Hamlet. Deutschland erlitt im
Dreißigjährigen Krieg die verdiente Strafe, weil es die großgeistige Reformationsbewegung zu Fürsten-
und Pfaffenzank erniederte und seit Arminius' Ermordung durch neidische Verwandte allzeit rheinbundschwanger den Nationalsinn
verleugnete. Da aber andererseits ungewöhnliche Tüchtigkeit und Begabung den Deutschen auszeichnen, trat ein
anderes ehernes Gesetz in Kraft, das wiederum wohlwollendes Entgegenkommen unsichtbarer Mächte verbürgt. Beim
Westfälischen Frieden sank die Bevölkerungsziffer angeblich auf 4 Millionen, was freilich statistisch so wenig
sicher wie die frühere Einwohnerzahl, die möglichenfalls 12 Millionen betrug. Daß Übertreibung
vorherrscht, lehrt die neueste Kunde, wonach die Steuerkraft nach dem Unheilkrieg sich hob, auch darf man nicht, wie die
Deutschen dies weinerlich tun, die Heimsuchung für abnorm halten, denn der 100 jährige Hugenottenkampf oder
englische Bürgerkriege von Simon de Montfort bis Heinrich VII. richteten noch größere Verheerungen an, laut
Gibbon raffte die große Hungersnot vor Untergang des römischen Reichs die Hälfte der Bevölkerung weg,
was für verjüngenden Ersatz durch einströmende Germanen Raum schaffte. Wir finden nun 150 Jahre nach dem
Dreißigjährigen Krieg die Deutschen wieder auf 24 Millionen gewachsen, und war auch ihr Renaissancereichtum dahin,
so breitete sich doch gleichmäßig bescheidene Wohlhabenheit aus, die nur im Vergleich zum prunkenden Reichtum des
englischen und französischen Adels ärmlich schien, dagegen nicht das grenzenlose Elend des Volkes unter den
Bourbons und dem britischen Merkantil-Imperium kannte.
Ähnlich finden wir Frankreich nach den Todeswehen der Revolution blühender und kräftiger als vorher, den
Aderlaß Napoleonischer Kriege ersetzte überall steigende Geburtenziffer. Wenn in Frankreich bei steigendem
Reichtum die Menschenzahl sich geringer vermehrte und zuletzt stationär blieb, so lag hierin gerechte Vergeltung
begangener Frevel, zugleich Vorbeugung, daß unruhiger Ehrgeiz und gewalttätige Eroberungsgier, vom gallischen
Charakter untrennbar, nicht dauernd Europa schädige. Condes zynischer Ausruf nach schwerem Schlachtverlust »Das
ersetzt eine Nacht von Paris«, konnte jetzt nicht mehr trösten. Man schwatzt immer von Zweikindersystem als Grund
dieses Übels, vergißt aber, daß es nur bei der Bourgeoisie herrschte, der fromme Adel erfreute sich oft
zahlreicher Kinder und beim Volke, das in solcher Frage einzig den Ausschlag gibt, blieb das System unbekannt. Daß
nationalökonomische Gründe, von Gelehrten mit beneidenswerter Sicherheit vorgetragen, an und für sich
Bevölkerungszuwachs nicht beeinflussen, lehrt die Verschiedenheit dieses Phänomens. Das bettelarme Russenvolk bei
frugalster Ernährung wuchs von 35 Millionen um 1812 in 100 Jahren auf das Fünffache, das arme Italien vermehrte
seine Rasse seither ums Vierfache, das reiche England freilich ums Achtfache, ohne Irland zu rechnen, dessen Bevölkerung
durch Hungersnöte zwar auf 5 Millionen sank, doch 12 Millionen nach Amerika abgab. Vom Stillstand der armen irischen
Rasse als solcher kann also gar keine Rede sein, während die reichen Franzosen auch in den Kolonien sich
äußerst spärlich vermehren. Während das an Lebensmitteln reiche Frankreich im Gegensatz zum
lebensmittelarmen England sich kraß rückständig in Volkszunahme erwies, folgte Spanien, einst ein volkreiches
Land, nicht dem Beispiel Italiens. Bei der Bedürfnislosigkeit des Spaniers und der Ertragfähigkeit des Bodens
außerhalb der Gebirgsgegenden gibt es keine nationalökonomische Erklärung dafür, zumal die spanische
Rasse auch in Amerika sich wenig vermehrte. Mit Dänemarks glücklichen Bedingungen hielt Volksvermehrung nie
gleichen Schritt, in Belgien und Holland nur scheinbar, denn prozentual im Vergleich zum übrigen Europa nahmen die
volkreichen Niederlande früher eine weit höhere Rangstufe ein als heute. Warum die Türken unter dafür
günstigen Verhältnissen von Vielweiberei und Agrikultur so geringe Vermehrung aufweisen, verglichen mit stetem
Anwachsen der Slawen? Über die verbreitete Annahme, Fortpflanzung beruhe auf
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