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Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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»Lausitzer-Funden« beobachtet, bedarf späterer Betrachtung der Urrassen und Urtraditionen. Während
physische Entwicklung gering und relativ, ist die psychische noch geringer und relativer, davon später.
     

 
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    Ein großer Irrtum besteht darin, heutige Bewußtseinsstände an früheren zu messen. In der Ära
des Weltkrieges sollte man ohnehin aufhören, die bête humaine als irgendwie verändert anzunehmen; die Erde
raucht noch immer von Brand und Blut, doch man darf nicht glauben, daß uns unerträglich scheinende
Mißstände von deren Zeitgenossen ähnlich empfunden wurden, es gleicht sich alles aus. Beim Konzil von
Konstanz schrie alle Welt nach Reformation, die Schlauheit der Pfaffen und Theologieprofessoren hintertrieb es im Bund mit
der Kaiserei, die Feigheit der Philister ergab sich darein, und das Reformkonzil errichtete Huß' Scheiterhaufen. Der
Vorgang gleicht indessen aufs Haar jedem beliebigen anderen der humanen Moderne, wo Staat, Kirche, Philistertum den
Idealismus niederhielten, etwa der Demagogenhetze vor und nach 1848, nur das Kostüm wechselt. Dagegen fehlt sonst der
Lichtblick, daß damals in Konstanz gerade spanische Mönche und Prälaten heftig und tapfer die Kirche
revolutionieren wollten. Das überrascht nur den nicht, der weiß, wie hoch die Volksfreiheit in Spaniens
Mittelalter gedieh, besonders unter dem herrlichen König Heinrich III. dem Kränklichen (29jährig gestorben),
wie die päpstliche Allmacht sich am meisten vor den Spaniern fürchtete, die Bannbullen verlachten. Und dies selbe
Volk versank später in den Inquisitionsschlamm, der ihm das Mark aus gichtbrüchig faulenden Knochen sog. Wer also
zur Reformationszeit auf das Konstanzer Konzil als Merkmal der Rückständigkeit blickte, täuschte sich sehr, es
gab damals viel Gesundes, was seither erkrankte, das 16. und 17. Jahrhundert standen trotz humanistischen Aufschwungs
sozialpolitisch tief unterm 14. und 15. Jahrhundert. So nun hat man alle Bewußtseinsstände verschiedener Zeitalter
zu werten, der Urmensch mit dem massiven Unterkiefer mag robustere Nerven gehabt haben, doch sein Innenleben war vielleicht
reicher entwickelt als das moderner Zartnerviger. Als der Tasmanier auf seinen merkwürdigen Flössen breite
Meerengen durchfuhr, vollbrachte er relativ das gleiche wie heutige Luftschiffer, sich durch selbsterfundene Technik in
fremdes Element hinauszuwagen. Daß Nietzsche historische Studien verpönte, entspricht dem naturwissenschaftlichen
Zeitgeist, historisches Denken aber taugt allein zur richtigen Auffassung der Natur geschichte. Evolution ist ein Traum
unhistorischer Köpfe.
    Früher sollte Anatomie für Generalorgien der Deszendenzkonfusion herhalten, doch diese schöne Zeit ist
vorüber. 1901 stellte der Erlanger Anatom Fleischmann das Normalgerüst der Wirbeltiere fest, woraus
Extremitäten in jeder beliebigen Form sich von selber ableiten, daraus ergab sich bei gemeinsamem Bauplan nichts weniger
als Möglichkeit des Auseinanderentwickelns. Die menschliche Fünffingerhand verbirgt sich bei den Tieren, dort
werden mehrere Finger geschwächt oder unterdrückt und der dritte, längste Finger zum Pferdehuf
vergrößert? Huxley behauptete sogar, der Dinosaurier sei auf den Zehen gekrochen und daher Ahne der Vögel,
eine unbegreifliche Voreiligkeit, da der Vogelkrallenfinger gar keine Ähnlichkeit damit hat. Auf der
südamerikanischen angeblichen Stammtafel des Pferdes ritt man so lange als Parade- und Steckenpferd herum, bis die
Anatomie durch Enthüllung entscheidender Verschiedenheit dieser Ähnlichkeitsjagd ein Ende machte. Fünffingrige
Extremität widerspricht schlagend gemeinsamer Abstammung, denn die ältesten Knorpelfische hatten Flossen, aus denen
sich niemals derlei entwickeln konnte. Der angebliche Pferdeahne »Phanacodus« unterschied sich in Gebiß,
Schädel, Augenhöhlen, Beinknochen völlig von Pferdegeschöpfen, deshalb erfand man aus einem Zahn ein
Zwischenwesen »Marychippus«! Das genügt für die Methode, Tatsachen zu erdichten, um eine Hypothese
durchzudrücken. Solch systematische Wahrheitsnotzucht steht in der Wissenschaft nicht vereinzelt da, Stradfordier und
Baconier stopfen beim Shakespeare-Rätsel die Lücken mit »man darf annehmen, man muß glauben«, und
wenn alle Stricke reißen, erfindet und fälscht man. Das ist die kindische Selbstüberhebung des
Verlehrtentums, das mit vorgefaßten Dogmen als Ariadnefaden im Labyrinth des Alls auskommen will.

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