Der Aufstand Der Ungenießbaren
also für die nächsten hundert Jahre gut versorgt. Die Reisearrangements nach Sibirien, inklusive eines siebentägigen Aktivurlaubs in den Gulags, sind schon für einige Saisons im Voraus ausgebucht. Touren in den Fernen Osten sind völlig undenkbar ohne eine Besichtigung der Residenz von Pol Pot, dort ist das gefragteste Souvenir eine Elfenbeinminiatur des Regals mit den Schädeln seiner Opfer – die Liste ließe sich beliebig verlängern.
In dem Museum in Krems an der Donau ist Josef Fritzl die unbestrittene Nummer eins. In der Schlange vor seiner Zelle wartet man wie einst vor Leonardos Mona Lisa im Louvre. Unter dem Podest seiner Büste im Stadtpark, direkt neben dem Denkmal »für die Helden der Pflichterfüllung 1914 – 1918«, liegen immer frische Blumen.
Und was hat dieser Typ geleistet?
Am Ende des letzten Jahrhunderts hat er die eigene Tochter vierundzwanzig Jahre lang im Keller gefangen gehalten, misshandelt und vergewaltigt und sie auf diese Art gezwungen, sieben Kinder zu gebären.
Er bekam lebenslänglich.
De Gaulle und Bush Vater und Sohn wurden zum Beispiel nicht bestraft.
Heute habe ich im Esszimmer den Alten getroffen. Er saß wie immer am Tisch neben dem Fenster. Ich habe ihm zugenickt und setzte mich an den Tisch neben ihm. Er hat durch nichts zu verstehen gegeben, dass er mich bemerkte. Er kaute auf etwas herum und schlürfte seinen Kaffee.
Während ich auf meinen Kaffee wartete, betrachtete ich die Fotos an den Wänden. Alte Fotos, aufgenommen während der großen Flutkatastrophen in dieser Gegend. An der Wand des Esszimmers, zehn Zentimeter oberhalb der Tür, hat jemand den Wasserpegel bezeichnet, der bei einer Überschwemmung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts erreicht worden war. Vielleicht sind die Atome, aus denen ich heute zusammengesetzt bin, damals ein Teil der Wasserwelle gewesen, warum nicht? Fraktalfrau pflegte manchmal über ähnliche Verrücktheiten zu philosophieren. Ich erinnere mich an ihre Geschichte über einen Traum, in dem wir uns getrennt hatten, und auf der Suche nach einander reisten wir in Zügen und konnten uns immer nur für einen Augenblick durch das Fenster sehen, während ein Zug in den Bahnhof einfuhr und der andere losfuhr, und dieser Traum verfolgte sie monatelang. Einmal warst du so nahe, du hast am Fenster gesessen und ein Buch gelesen, und ich saß am Fenster des Zuges, der gerade den Bahnhof verließ, du warst in Reichweite.
Bald darauf erschien Gärtner auf der Bildfläche, und die Dinge entwickelten sich schlecht. Unsere Züge sind sich nie mehr begegnet.
Dann hörte ich den Alten sprechen.
In diesem Kaff, sagte er, gibt es keinen anständigen CD-Laden.
Entschuldigung?, sagte ich.
Es gibt eine Menge Frisörsalons und einen Laden für Frauenschlüpfer, setzte der Alte fort, als gäbe es mich nicht, es gibt auch dieses Museum für Idioten, aber keinen Ort, an dem man eine gute CD mit klassischer Musik kaufen kann. Was ist bloß mit den Menschen los?
Der Alte sagte die Wahrheit, was die Frauenschlüpfer betraf. Die Unmenge von Geschäften für Frauenunterwäsche konnte einem wirklich nicht entgehen. Diese Haufen von Schlüpfern in den Schaufenstern, rot, schwarz, durchsichtig, mit Leopardenfellmuster, mit Spitze, ohne Spitze – sie springen einem buchstäblich ins Auge, und man fragt sich, wer zum Teufel soll so viele Schlüpfer kaufen, und wer soll sie alle tragen.
Ich glaube, dass die heutigen Männer Frauenschlüpfer tragen, sagte der Alte und erriet damit genau meine Gedanken. Er fügte hinzu: In jedem Keller hier hockt ein Fritzl.
Nach welcher CD suchen Sie denn?, fragte ich ihn.
Er hob seinen Kopf und sah mir in die Augen.
Nach gar keiner, sagte er, ich habe nur bemerkt, dass die Welt zum Teufel gegangen ist.
Er blickte mich mit ruhigem Gesichtsausdruck an. Ich ertrug seinen Blick, ohne dass er mir unangenehm gewesen wäre, vielmehr fühlte ich mich wohl, während ich in seine Augen schaute.
Die Sängerin, die Sie häufig hören, wer ist das?, fragte ich.
Kennen Sie sich mit klassischer Musik aus?
Nein. Aber ihre Stimme gefällt mir. Ich weiß nicht, wovon sie singt, aber ich glaube an alles, was sie sagt.
Ach, Janet Baker, sagte der Alte verliebt und senkte seinen Blick wieder.
Die verbleibende Zeit des Frühstücks verbrachten wir schweigend. Ich war mit den Gedanken bei Fraktalfrau und Gärtner. Ich spürte, dass sie immer noch hier waren, in der Nähe, aber bald würden sie weiterziehen, vielleicht schon heute.
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