Der Aufstand
war da noch das Bündel von Briefen, noch immer von demselben gelben Band zusammengehalten; die Locke seines goldenen Haars; und das einzige Foto, das sie von ihm hatte und das schon längst zu einem matten Sepia-Ton verblichen war.
Sie betrachtete das Bild. Obwohl es vor so langer Zeit aufgenommen worden war, erinnerte sie sich noch genau an jeden einzelnen Augenblick, den sie miteinander verbracht hatten. Sie wusste immer noch, wie sich seine Haut auf ihrer angefühlt hatte, wie sanft seine Stimme und wie ansteckend sein Lachen gewesen war.
Eines Tages komme ich zu dir zurück, mein Liebling.
Das waren seine letzten Worte an sie gewesen. An einem Tag, an den sie nicht gerne dachte, auch wenn sie die Erinnerung daran nicht aus ihrem Gedächtnis verdrängen konnte. Und das schon seit hundertdreizehn Jahren.
Ich komme zurück.
Aber sie wartete noch immer darauf.
Oder wartete er noch immer darauf? Während sie mit dem Daumen über das verblichene Foto strich, musste sie an Joel Solomon denken. Es war unheimlich. Sie hätten Geschwister, Zwillinge sein können.
Alexandra Bishop, geboren 1869 und verwandelt 1897 , hatte im Gegensatz zu William nie an so etwas wie Reinkarnation geglaubt. Aber damals hatte sie auch noch nicht an die Existenz von Vampiren geglaubt.
Sie betrachtete noch eine Weile das Bild, bevor sie es wieder in die Truhe legte und den Deckel schloss.
Die hintere Wand des Schlafzimmers nahm ein einziger riesiger Spiegel ein. Sie ging auf ihn zu und nahm im Vorbeigehen eine Fernbedienung von einem Tisch. Auf einen Knopfdruck glitt die Spiegelfläche zur Seite und machte den Weg zu dem dahinter verborgenen Raum frei. Alex trat ein, hielt die Fernbedienung hinter sich und schloss die Wand wieder.
Sie war in ihrer Waffenkammer.
Der Raum war denkbar praktisch eingerichtet. Auf einem stählernen Wandregal lagen zwei Sturmgewehre, eine Schrotflinte mit abgesägtem Lauf und zwei Maschinenpistolen, auf einem anderen Regal vier identische Pistolen der Marke Desert Eagle, Kaliber . 50 . An der gegenüberliegenden Wand standen weitere Metallregale und dazwischen die Werkbank, an der sie per Hand ihre eigene Munition herstellte. Sie hatte noch nie den Patronen vertraut, die die VIA ihren Agenten zur Verfügung stellte. Auf der Werkbank war eine Ladepresse mit einer rotierenden Plattform festgeschraubt, in die jeweils ein halbes Dutzend leerer Messingpatronen passte. Ein ganz oben angebrachter durchsichtiger Kunststofftrichter war mit Schießpulver gefüllt, das aussah wie grobgemahlener Pfeffer. Das Ganze war so etwas wie Alex’ kleine private Fertigungsstraße.
Sie setzte sich an die Werkbank und betätigte den Hebel an der Presse. Mit je einer Hebelbewegung füllte sie die Patronenhülsen mit Pulver, mit jeweils einer weiteren drückte sie die gut einen Zentimeter dicken Hohlspitzgeschosse fest in die Hülsen. Nach fünf Minuten hatte sie dreißig Patronen Kaliber . 50 fertig – oder zumindest wären sie fertig gewesen, wären sie für ein normales Ziel bestimmt. Für Alex’ Zwecke fehlte in der Produktion noch ein letzter Schritt.
Sie stellte die Patronen aufrecht nebeneinander auf die Werkbank, zog sich dicke Gummihandschuhe und eine Chirurgenmaske über und entnahm einem der Regale eine Plastikflasche. Auf dem Etikett stand «Nosferol». Neben der Inhaltsbezeichnung waren ein kleiner Totenkopf und gekreuzte Knochen abgebildet. Bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass der Schädel winzige Fangzähne hatte; irgendein Witzbold in der pharmazeutischen Fabrik des Verbands hielt das offensichtlich für Humor.
Vorsichtig schraubte sie den Verschluss auf. Schon der kleinste Hauch der Dämpfe in der Flasche hätte ausgereicht, um sie zu vernichten. Sie hasste die Arbeit mit dem Zeug, aber mitunter gehörte es eben zu ihrem Job, Dinge zu tun, die sie verabscheute.
Der Inhalt der Flasche ging allmählich zur Neige, und sie nahm sich vor, bald eine neue zu bestellen. Dann träufelte sie mit Hilfe einer Wegwerf-Pipette jeweils fünf Tropfen in die hohlen Spitzen der Geschosse, bis alle dreißig Patronen mit dem Gift präpariert waren. Noch immer mit Handschuhen und Maske, zündete sie eine Kerze an und versiegelte die Spitze einer jeden Kugel mit geschmolzenem Wachs. Dies war der problematischste Punkt der gesamten Produktion. War das Nosferol nicht vollständig von Wachs eingeschlossen, konnte sich schon das kleinste Leck verheerend auf sie auswirken.
Sie wartete ein paar Minuten, bis das Wachs
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