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Der Auftraggeber

Der Auftraggeber

Titel: Der Auftraggeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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vorgefunden hatte aber von Verschmutzungen gereinigt und in seinem ursprünglichen Glanz wiederhergestellt.
    Er brauchte Schlaf, aber noch dringender mußte er an dem Vecellio arbeiten. Schamron hatte seine Emotionen geweckt, seine Sinne geschärft. Gabriel wußte, daß das für seine Arbeit nützlich sein würde. Er schaltete die Stereoanlage ein, wartete darauf, daß die Musik begann, setzte die Lupenbrille auf und griff nach seiner Palette, als die ersten Takte von La Boheme erklangen. Er goß etwas Mowolith 20 auf die Palette, fügte Trockenpigment hinzu und verdünnte die Mischung mit einem Lösungsmittel, bis die Konsistenz zu stimmen schien. Von der linken Wange der Jungfrau Maria war ein kleines Stück abgeblättert. Gabriel kämpfte seit über einer Woche darum, diese Beschädigung zu reparieren. Er tauchte den Pinsel ein, rückte seine Lupenbrille zurecht, trug die Farbe leicht tupfend auf und imitierte dabei sorgfältig Vecellios Pinselstriche. Bald war er völlig von seiner Arbeit und Puccini gefangen.
    Nach zwei Stunden hatte Gabriel eine Fläche restauriert, die ungefähr halb so groß wie einer seiner Hemdknöpfe war. Er klappte die Lupenbrille hoch und rieb sich müde die Augen. Dann mischte er wieder Farbe auf seiner Palette an und arbeitete weiter.
    Nach einer weiteren Stunde drängte Schamron sich in seine Gedanken.
    Tariq hat den Botschafter und seine Frau in Paris erschossen.
    Wäre der Alte nicht gewesen, wäre Gabriel niemals Restaurator geworden. Schamron hatte eine hieb- und stichfeste Tarnung gewollt, die Gabriel die Möglichkeit gab, legitim in Europa zu leben und viel zu reisen. Weil Gabriel ein begabter Maler war - er hatte an der Kunstakademie in Tel Aviv und ein Jahr in Paris studiert -, hatte Schamron ihn nach Venedig geschickt, um ihn Restaurator lernen zu lassen. Sobald er ausgelernt hatte, hatte Schamron Julian Isherwood eingespannt, damit er Gabriel Arbeit verschaffte. Mußte Schamron ihn nach Genf schicken, nutzte Isherwood seine Verbindungen, um ein Gemälde zu finden, das Gabriel restaurieren konnte. Meistens arbeitete er für Privatsammler, aber manchmal auch für kleine Museen oder andere Kunsthändler. Gabriel war so begabt, daß er rasch zu einem der gesuchtesten Restauratoren der Welt aufstieg.
    Gegen zwei Uhr morgens begann das Gesicht der Jungfrau Maria vor Gabriels Augen zu verschwimmen. Sein Genick brannte wie Feuer. Er schob die Lupenbrille hoch, kratzte die Farbe von der Palette und räumte seine Sachen auf. Dann ging er nach unten, ließ sich angezogen ins Bett fallen und versuchte zu schlafen. Aber es gelang ihm nicht. Schamron hielt seine Gedanken besetzt.
    Tariq hat die Seine mit dem Blut unseres Volkes rot gefärbt.
    Gabriel öffnete die Augen. Langsam, Stück für Stück, Lage für Lage, kam alles zurück, als sei es auf einem abscheulichen Fresko an der Zimmerdecke über ihm abgebildet: der Tag, an dem Schamron ihn angeworben hatte, seine Ausbildung an der Geheimdienstschule, Einsätze gegen die Terrororganisation Schwarzer September, Tunis, Wien… Er glaubte fast, die merkwürdigen hebräischen Spezialausdrücke des Diensts zu hören: Kidon, Katsa, Sajan, Bodel, Bat leweja.
    Jeder von uns hinterläßt unerledigte Kleinigkeiten. Alte Unternehmen, alte Feinde. Die zerren an einem wie Erinnerungen an alte Liebesaffären.
    Zum Teufel mit dir, Schamron, dachte Gabriel. Such dir einen anderen!
    Bei Tagesanbruch schwang er die Füße auf den Boden, stand auf und trat ans Fenster. Der Himmel war grau und wolkenverhangen; böiger Wind trieb Regenschleier vor sich her. Jenseits der Pier, im kabbeligen Wasser hinter dem Heck der Ketsch, stritt sich ein Möwenschwarm laut kreischend. Gabriel ging in die Küche und kochte Kaffee.
    Schamron hatte ihm eine Akte dagelassen: ein gewöhnlicher brauner Schnellhefter ohne Beschriftung, auf der Rückseite ein Kaffeefleck wie ein Rorschach-Test neben einer kometenförmigen Spur von Zigarettenasche. Gabriel schlug ihn langsam auf, als fürchte er, der Ordner könnte explodieren, und hob ihn vorsichtig an die Nase - eine aus dem Archiv der Ermittlungsabteilung, ja, das war der typische Aktengeruch. Vorn eingeklebt war eine Liste mit den Namen aller Agenten, die diese Akte jemals entliehen hatten. Lauter dienstliche Decknamen, die ihm nichts sagten - bis auf den letzten: Rom, der interne Code für den Boß. Gabriel blätterte weiter, las den Namen des Gesuchten und sah sich als nächstes eine Serie grobkörniger Überwachungsfotos

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