Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Auftraggeber

Der Auftraggeber

Titel: Der Auftraggeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
Vom Netzwerk:
der Dorfbewohner niedergemetzelt worden. Die Juden trieben die Männer und Jungen zusammen, stellten sie an einer Mauer auf und begannen zu schießen. Sie zogen von Haus zu Haus und ermordeten die Frauen und Kinder. Sie sprengten die Häuser. Sie erschossen eine im neunten Monat schwangere Frau, schnitten ihr danach den Bauch auf und rissen das Ungeborene heraus. Eine andere Frau stürzte vor, um das Leben des Säuglings zu retten. Sie wurde von einem Juden erschossen.«
    »Ich kann nicht glauben, daß in Palästina solche Greueltaten verübt wurden.«
    »Natürlich wurden sie verübt, Dominique. Die Nachricht von dem Massaker machte in den arabischen Dörfern wie ein Lauffeuer die Runde. Die Juden nutzten die Situation geschickt für ihre Zwecke aus. Sie montierten Lautsprecher auf Lastwagen und verbreiteten Warnungen. Sie forderten die Araber auf, das Land zu verlassen, sonst werde es ein weiteres Deir Jassin geben. Sie setzten Gerüchte über den Ausbruch von Typhus und Cholera in Umlauf. Sie sendeten im Rundfunk heimlich in arabischer Sprache, gaben sich als arabische Führer aus und drängten die Palästinenser zur Flucht, um ein Blutbad zu verhüten. Das sind die wahren Gründe, aus denen die Palästinenser ihr Land verlassen haben.«
    »Das habe ich nicht gewußt«, sagte sie.
    »Meine eigene Familie stammt aus dem Dorf Lydda. Wie Deir Jassin existiert auch Lydda nicht mehr. Es heißt jetzt Lod. Die Zionisten haben dort ihren verdammten Flughafen Tel Aviv erbaut. Nach heftigem Kampf mit den arabischen Verteidigern sind die Juden in Lydda eingedrungen. Es kam zu einer unbeschreiblichen Panik. Zweihundertfünfzig arabische Dorfbewohner fanden im Kreuzfeuer den Tod. Als der Ort erobert war, haben die Kommandeure Ben-Gurion gefragt, was mit den Arabern geschehen solle. ›Vertreibt sie!‹ hat er gesagt. Den eigentlichen Vertreibungsbefehl hat damals Jitzhak Rabin unterzeichnet. Meine Angehörigen bekamen zehn Minuten Zeit, soviel zusammenzupacken, wie sie tragen konnten, dann wurden sie aus dem Haus gejagt. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg. Die Juden lachten sie aus. Spuckten sie an. Das ist die Wahrheit über das Schicksal der Palästinenser. Das hat mich geprägt. Deshalb hasse ich die Zionisten.«
    Jacqueline dachte jedoch nicht an die Araber von Lydda, sondern an die Juden von Marseille - an Maurice und Rachel Halévy und die Nacht, in der sie von Gendarmen des Vichy-Regimes abgeholt worden waren.
    »Du zitterst«, sagte er.
    »Deine Erzählung hat mich betroffen gemacht. Komm wieder ins Bett. Ich will dich in den Armen halten.«
    Jusef kam wieder ins Bett, bedeckte ihren Körper sanft mit seinem und küßte sie. »Ende der Vorlesung«, sagte er dann. »Wenn dich das interessiert, können wir morgen  weitermachen.«
    »Es interessiert mich - sogar sehr.«
    »Glaubst du, daß ich die Wahrheit sage, oder hältst du mich  nur für einen weiteren fanatischen Araber, der davon träumt, die Juden ins Meer zu treiben?«
    »Ich glaube dir, Jusef.«
    »Magst du Lyrik?«
    »Ich liebe Gedichte.«
    »Für Palästinenser ist Lyrik sehr wichtig. Die Lyrik gibt uns die Möglichkeit, unser Leid auszudrücken. Sie gibt uns den Mut, uns der Vergangenheit zu stellen. Der Poet Mu'in Basisu gehört zu meinen Lieblingsdichtern.«
    Er küßte sie nochmals, dann begann er zu rezitieren:
    Und nach der Flut war nichts übrig von diesem Volk, diesem Land, als ein Strick und ein Pfahl; nichts als im Morast treibende nackte Körper, Überreste von Kindern und Verwandten; nichts als aufgedunsene Leichname, die keiner mehr zählen wird.
    Hier Trümmer, hier Tod, hier in tiefem Wasser ertränkt, Brotbrocken umklammert noch meine Hand.
    »Ein schönes Gedicht«, sagte sie.
    »Auf arabisch klingt es besser.«
    Jusef machte eine Pause, dann fragte er: »Sprichst du zufällig Arabisch, Dominique?«
    »Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?«
    »Das war nur so eine Idee.«
    Morgens brachte Jusef ihr einen Kaffee ans Bett. Jacqueline setzte sich auf und trank ihn sehr schnell. Sie brauchte die anregende Wirkung des Koffeins, um wieder klar denken zu können. Sie hatte nicht geschlafen. Nachts hatte sie mehrmals überlegt, ob sie aus dem Bett schlüpfen sollte, aber Jusef schlief so unruhig, daß sie fürchtete, er könnte aufwachen. Ertappte er sie dabei, wie sie mit einem Spezialgerät, das als Etui für Wimperntusche getarnt war, Abdrücke von seinen Schlüsseln machte, würde sie sich nicht herausreden können. Er würde annehmen, sie

Weitere Kostenlose Bücher