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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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geschulte Textauslege-rin weiß sie auch, daß sein rührender Eifer im Zurücknehmen alles jeweils Gesagten auch eine stürmische Zärtlichkeit
    bedeutet. Glaubtsiehofftsie. Hopelessly hopeful. Themire
    wird im März in ihrer Kleidung, um nicht noch ungesünder
    auszusehen, jede leuchtende Farbe vermeiden. Sie war ja
    auch noch nie in Kalifornien. Das Licht dort soll ziemlich stark sein. Entblößend. Aber daß er und sie sich deshalb ausschließlich in der Lichtlosigkeit der chinesischen
    Restaurants treffen − wie er sarkastisch oder wirklich vorschlägt −, wird sie nicht zulassen. Sie will ihn sehenhaben-begreifen, so grell wie möglich.
    Sein Sich‐durch‐sie‐lebendig‐fühlen. Zwei verschiedene
    Arten zu fühlen. In Rosennes Phänomenologie‐Vorlesung
    war zu lernen der Unterschied zwischen other‐directedness
    und intentionality. Sie möchte das genau so praktizieren, wie
    sie es braucht. Alles. Nur sie und er sollen das Thema sein.
    Wie Patron Julien Offray es vorgemacht hat. Allerdings
    brauchte sie schon lang keinen Patron mehr. Der war ein Vorwand, ein ebenso liebens‐ wie schätzenswerter. Aber im März, wenn die Papier‐ und Telephonierepoche vorbei ist,
    dürfen sie allein und sich alles sein.

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    Als sie aus dem Klassenzimmer trat, regnete es, goß es. Ein
    tropisches Gewitter. Sie ging durch den Regen nach Hause.
    Zehn Minuten. Sie lächelte. Triumphierend. Sie hatte aus
    ihrem Fach einen Brief geangelt. Den trocken heimgebracht.
    Geöffnet. Gelesen. Enttäuscht. Ernüchtert. Niedergeschlagen.
    Fernmündlich sind sie soviel weiter als in dieser perfekten Allesbedenken‐Stilistik. Alibi‐Stilistik ist das. Feigheits-Syntax. Fernmündlich hatte er den Ventilator beneidet, und sie hatte gewünscht, er wäre der Wasserfall ihrer Dusche. In
    seiner Briefstilistik bringt er sich praktisch wieder zum Verschwinden. Sie dagegen sagt ihm einfach, sie liebe ihn und täte nichts lieber als sich ganz in ihm auflösen, das heißt, sie verschwindet nicht ihm, sondern in ihm. Wissend, daß sie
    danach (was für ein Unwort) weiterleben MUSS.
    Den Wetterbericht, hot, hazy and humid, findet sie in sich,
    an sich, durch sich bestätigt. Ihm muß sie gestehen, daß sie sich nicht mehr daran erinnern kann, wie das war, ein Leben
    ohne ihn. Er sei, sagt sie, nicht mehr wegzudenken. Also eine
    Gottliebe Eigenschaft sei schon seine Allgegenwart. Wo sie ist, ist er bei ihr, im Bett, im Bad, in der Bibliothek. Wie sie sich fühlt −, das muß ein schwerer Koffeinschock sein. So verrückt war sie noch nie. Vielleicht ist sie zum ersten Mal normal. Und das hält sie nicht aus. Also zwischen Ulrike von
    Levetzow und ihrem Anbeter lagen 55 Jahre. Sie hat nachge‐
    schaut. Von Jahrgängen will sie nichts mehr hören. Ainʹt mis-behavinʹ läuft bei ihr. Fats Waller, Iʹve got my fingers crossed /
    not that Iʹm superstitious / Iʹm afraid / itʹs too good to be true.
    Andererseits hat seine Stimme, die fernmündliche, zuge‐
    nommen an Zudringlichkeit und Nichtanderskönnen und
    eben doch auch an Häufigkeit. Dreimal täglich. Das ist doch

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    nicht nichts, oder. Täglich dreimal. Und sie gestehtʹs ihm inzwischen: Sie hat ihn einfach unterschätzt. Und er: Er sich
    auch. Und sie: Aber sie sich nicht. Butterflies in the stomach.
    Wenn er sie irgendwo abholt, wird sie ihr Kosmetik‐
    köfferchen in der Hand haben. In der linken. Sie hat in Gedanken schon alles hinter sich, was je zwischen ihnen sein
    wird oder sein kann oder sein könnte. Also, wenn er das übertreffen will, muß er sich einiges einfallen lassen. Keine Angst. Sie kann sich auch in himmelblaues Schweigen hüllen
    und so weiter. Jetzt soll sie unterrichten und drei Kapitel Rohfassung liefern und will doch nur seine Briefe bis zum Auswendigkönnen lesen und die Telephongespräche vom
    innersten Tonband noch einmal und noch einmal ablaufen
    lassen. Es wird vorstellbar, daß er, falls sie einander je sehen, über Altersunterschiedszahlen nichts mehr zu jammern hat,
    sie wird nämlich durch dieses irrsinnige Ihn‐nicht‐Haben,
    durch den Wahnsinn des Ihn‐Vermissens, durch den Ohne‐
    ihn‐Seins‐Schmerz wird sie so gefoltert, so bis zur
    Erschöpfung verzehrt, daß von ihr nur noch eine Alte Frau übrig sein wird. Und hat sich, diese vor Sehnsucht Hin-kende, die feinsteverruchteste Unterwäsche gekauft. Und sie
    strickt wieder! Total regressiv. Die Mutter übernimmt das Kommando. Tiefviolett, ein Seidenpullover sollʹs werden.
    Theyʹre setting

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