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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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themselves up for major trouble, does he know that. Im Krieg wie in der Liebe, sagt der Patron, gilt der Satz: Die Pflicht ist alles, die Gefahr ist nichts. Nach dem Pullover, der sozusagen im Handumdrehen fertig sein wird,
    kommt sofort eine schmutziggelbe Strickjacke dran. Sie muß
    sich die Finger wundstricken. Weil sie nicht schreiben kann.
    La Mettrie ist der einzige, der das versteht, das weiß sie. Ach, 95
    Sylvandre, seufzt Themire. Ja, soll sie denn dem Herrn
    Rosenne beschreiben, daß Sylvandre es dreimal hinterein‐
    ander mit Themire tat, weil sie, die Schlampe Themire, erst beim dritten Mal so weit war? Das war schon im Jahre 1745
    den Herrschaften zuviel. Und das richtig, das heißt, nach der
    Erfahrung dargestellt, das heißt: nicht nur moralisch
    klimatisiert davon geredet, wie es üblich war von Lessing bis
    Lange (du weißt, Geschichte des Materialismus), der viel versteht, aber die Lust‐ Schriftdoch cynisch findet. Na ja, Marburg 1873, dafür war er doch auch mutig. Wenn sie ihren
    La Mettrie darstellen würde, das heißt, die La Mettrie‐Sätze messen an ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen,
    dann würde das entweder niemanden interessieren oder sie
    wäre ihren Job los. Wahrscheinlich beides. Aber da sie im Januar von den erwarteten drei Kapiteln Rohfassung so gut wie nichts liefern wird, wird man sie entweder für faul oder
    für unfähig halten. Wahrscheinlich für beides. Womit sie
    dann endlich als die, die sie ist, erkannt sein wird. Daß er heute am Telephon alles, was ihn dort hält, als ehrenwerte Gesellschaft bezeichnete, hat ihr gut getan. Daß sie ihn nicht befreien kann, selbst wenn sie alle Kaltblütigkeit der Welt aufbrächte − und das wird sie definitely not −, ist sicher. Also ist ihr aufbrandendes Geseire, seins und ihrs, Gischt und nochmal Gischt. Oder Geflunker. Oder Funkenflug in einer
    eisigen Winternacht. Oder sie sind eben eine stinknormale Affäre. Wie Madelon und ihr Brian, und‐und‐und. Sie hat
    doch gemerkt, daß er zu heftiggroßen Sätzen flieht, um sich
    und sie nicht der nächstbesten Affärenlächerlichkeit auszuliefern. Könnte es sein, daß sie, er und sie, nur so lächerlich
    sind, weil sie einander so ernst nehmen? Kann etwas

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    komischer sein als der Anspruch, unvergleichlich zu sein?
    Und das mußte noch geträumt werden: Statt der gelbgrünen
    Gretel saß ein ganz kleiner tiefvioletter Vogel beim blauen Hansel. Dieser Kleine biß dem Hansel das Bein ab. Sie schrie
    nach ihrem Vater. Der nahm das nicht weiter wichtig. Sie stand, konnte nicht wegschauen von Hansel, der versuchte, auf dem dünnen Bein die Balance zu halten. Als sie
    aufwachte, rannte sie gleich zum Käfig. Die waren ja wieder
    zu Gast. Und beide gesund, der Blaue und die Gelbgrüne.
    Im letzten Brief hatte er beschrieben, wie er unter ihrem blauen Laken erwachte und sie darauf aufmerksam machte,
    daß er tot sei. Das hat sie schaudernd genossen. Heute
    fernmündlich seine Bemerkung, daß die horrenden Tele‐
    phonrechnungen erst nach seinem Tod ins Haus kämen, hat
    sie aber doch erschreckt. Sie weiß schon, es war, es sollte ein
    Witz sein. Warum sagte er so etwas? Sagte es einfach so hin.
    Jesus, sie − er und sie − haben doch nicht einmal eine normale Affaire. Madelon wird zweimal pro Monat vom
    farbigen Fahrer Louis, einem hübschen Fahrer sogar, ab‐
    geholt und zu Brian Dewey, dem genialen Erfinder der
    feinsten Wasserreinigungsmaschinen der Welt, nach Wil‐
    mington oder Charleston chauffiert, um dann verwöhnt zu
    werden und so weiter, und dann wieder zurückchauffiert
    vom dunkelschönen Louis und so weiter. Soll doch ihr
    Wendelin Gottlieb ... Jetzt hat sieʹs, sie wird ihn jetzt, ganz ernüchtert, mit dem hier üblichen Vornamen‐Zweierpack
    nennen, á la John F.! Soll doch ihr Wendelin G. einmal pro Woche vor Anna hintreten, zum Kegeln müssen, jeden
    Donnerstag, zum Beispiel, immer in Turnschuhen, soll seine
    Anna doch zugeben, es tue ihm gut, auch wenn er danach 97
    ziemlich erschöpft sei, bis eben die Kegelbahn eines Tages schließt oder er einfach nicht mehr kegeln, sondern die
    Donnerstagabende wieder daheim verbringen will. Ihre
    blütenweiße Spitzenunterwäsche aber liegt sorgfältig im
    Schrank und wartet auf einen März, der, je heftiger sie ihn ersehnt, um so weniger vorstellbar wird. Heiliger Julien, wo
    bleibt lʹimagination! Aber der Pullover ist fertig. Inklusive Ärmel. Ob er ihr gefällt, könnte von Gottlieb W. (so herum ist es besser)

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