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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Kneipp läßt grüßen. Aber auch an Rom und Griechenland wird man als sein Leser oft erinnert.
    Überhaupt reichen wir an die Alten nicht heran. Das läßt ihn sich zu Cicero und Plinius d. J. zählen, daß die nur ihre persönlichen Vorlieben überschwenglich dargestellt haben. Aber er geht nie unter in einem Gedankenimpressionismus, sein Thema bleibt
    die Natur, auch wenn er es ganz und gar aus seiner Empfindung, seinem amour‐propre behandelt.
    Trotz aller Bildung kommt er wie ungelehrt daher. Nor‐
    matives ist ihm fremd. Das Denken geht den Sätzen nicht voraus, sondern findet in ihnen, durch sie statt. Es gibt, was
    er gibt, nur in seinen Sätzen. Die Sätze bezeugen unmittelbar,
    aus welcher Erfahrung sie stammen. Sein Gedachtes drückt
    immer die Stimmung aus, aus der es entstanden ist. Eben diese erfahrungsgesättigte Kenntlichkeit, diese immer aus
    dem eigenen Leben stammende Stilistik hat ihn in Verruf
    gebracht. Bei den Theologen und bei den Aufklärern
    gleichermaßen. Es charakterisiert ihn gewaltig, wie Lessing und Diderot auf ihn geschimpft haben. Lessing empfahl ihm
    in der Rezension von LʹArt de jouir als Titel Porneutik.
    Priapeische Ausrufungen seien das. Und Diderot: Einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen schließe ich aus der Schar der Philosophen aus. Das gibt es ja bis heute, daß Intellektuelle, die es zu Ansehen, also Einfluß, also Macht gebracht haben, einen anderen Intellektuellen,

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    der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschließen möchten.
    Das ist, auch unter säkularisierten Umständen: odium
    theologicum. Ein Eifer, der entsteht, wenn man sein eigenes
    aufgeklärtes Normatives universalisieren will.
    Noch
    fünfzehn Jahre später hat Lessing es in seinem vor Wahr-nehmungslust und Folgerungskraft blitzenden Laokoon nicht lassen können, des längst Verstorbenen böse zu gedenken. Es
    geht um La Mettries Porträtbild. Beim ersten Hinschauen
    halte man den Gesichtsausdruck des Abgebildeten für
    Lachen, schaue man noch einmal hin, wird aus seinem Lachen
    ein Grinsen. Warum reizt er die Anständigen so? Weil er mutwilliger schreibt als sie. Er fühlt sich erst wohl, wenn er
    das Gefühl hat, er sei zu weit gegangen. Zu weit, was
    Anstand und Sittlichkeit angeht. Er lebt geradezu davon, das
    öffentlich zu bezeugen, was bisher jeder ausgeklammert hat.
    Dieser Leidenschaft verdanken wir diese Zeugnisse, die uns
    sagen, daß im 18. Jahrhundert kein bißchen anders empfun‐
    den wurde als heute. Und wir erkennen, was alles, etwa in der aufklärerischen Enzyklopädie, ausgeklammert wurde.
    Und das war sein Vergehen: Er hat die Sinne zu seinen Phi‐
    losophen gemacht, er hat versucht gleichsam im Durchgang durch die Organe die Seele zu entwirren, aber − und damit entspricht er immer noch moderner Quantenphysik, die
    ohne die Statistik nicht auskommen will − aber, sagt er, er könne zwar nicht mit letzter Eindeutigkeit die Natur selbst des Menschen entdecken, aber er suche den größten
    Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen. Weil er alles, was er denkend erfuhr und dadurch erkannte, auch
    wieder auf sich anwandte, auf sich als Mann und Mitbürger,
    also auf seine Lust und auf seine Moral, und so zu einer 122
    Sprache kam, Lust überhaupt und Moral überhaupt
    betreffend, deshalb wurde er beschimpft und verleumdet
    wie sonst keiner. Und hat doch geschrieben: Sich um die Gesellschaft verdient machen − darin besteht ... alle Tugend.
    Keiner hat so leidenschaftlich gegen die Todesstrafe ge‐
    schrieben. Der Verbrecher habe getötet aus bestimmten
    Gründen, aus Not, Verzweiflung oder sittlicher Be‐
    schränktheit; der Henker töte (den Verbrecher) für nichts als
    Geld. Und so weiter. Wo immer man ihn aufsucht, er wirkt immer wie ein Mensch mozartischer Heiterkeit, Sin-nenfreudigkeit und Offenheit. Aber um das Niveau seines
    auf die Materie gerichteten Denkens noch einmal der heu‐
    tigen Sprache auszusetzen, noch einmal Manfred Eigen: Wir
    verstehen − um es ganz klar zu sagen − unter «Selbstorganisation der Materie» nichts anderes als die aus definierten
    Wechselwirkungen und Verknüpfungen bei strikter Einhaltung gegebener Randbedingungen resultierende Fähigkeit spezieller Materieformen, selbstreproduktive Strukturen hervorzubringen.
    Oder − und man stelle sich vor, mit welchem Enthusiasmus
    La Mettrie solche Sätze gelesen hätte: Indem wir das Phänomen Leben auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen, stellen

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