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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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wir keineswegs in Abrede, daß diese neue Ebene der Organisation sich in einer für diese allein typischen und charakteristischen Form äußert, ja, daß aus der materiellen Organisation schließlich auch nicht‐materielle Wirkungen hervorgehen.
    Bleiben wir innerhalb der philosophischen Sprache, die
    jetzt das Sagen nicht mehr hat, wenn es um Natur geht. Der
    Anspruch La Mettries an das Denken existiert noch. Seine esprits animaux, seine organismische Struktur, seine Zirkulation des Blutes, der Lymphe, sein Bedürfnis, bei der Natur in ihrer 123
    großartigen Einfachheit zu verweilen, das alles hat inzwischen andere Namen, aber diese neuen Namen bestätigen, daß
    seine Wörter, die entstanden waren gegen das Himmel und
    Erde verfinsternde Vorurteil, ihre Helle nicht eingebüßt
    haben. Und die, die ihn als einen philosophierenden Unhold
    verdammten, hat er schon vorweg überholt mit dem Satz: In
    der Gesellschaft, in der er trotz seiner Kühnheit kaum mit Einfluß rechnen könne, sei seine einzige Maske die Masken-losigkeit gewesen. Die Zeit, in der die gewissermaßen radikale Bezüglichkeit des Denkens auf den, der denkt,
    anstößig wirkte, ist vorbei. La Mettrie ist zwar ziemlich unbekannt geblieben, aber er müßte, um akzeptiert zu
    werden, nur noch gelesen werden.

    II. Wenn man in einem anderen das entdeckt, worin er nicht
    übertroffen werden kann, ist man glücklich. Und wenn man
    das in einem Denker entdeckt, der vor mehr als 250 Jahren gedacht und geschrieben hat, ist man glücklich und fröhlich.
    Daß man zu jeder Zeit Unüberholbares aussprechen oder
    schreiben kann, darf einen auf fröhliche Art festlich stimmen.
    Aber verfehlt man ihn nicht doch, wenn man sich so emsig um ihn bemüht? Der von Montaigne geerbte Anspruch: sich
    selbst zum Thema zu machen! Und La Mettrie hat, wie weit
    er dann auch ausgreift, nichts anderes getan, als eben sich, seinen Charakter zu Papier zu bringen, ohne daß ihm die radikale Inanspruchnahme der eigenen Erfahrung je zum
    Bloßprivaten verkommen wäre. Jetzt, machʹs auch so. Ohne
    es nachzumachen. Dein durch La Mettrie geschärftes Thema:
    die Erziehung als eine Ausbildung zum Gefangenen. Von
    Anfang an war kein Mensch und keine Institution daran

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interessiert, dich zu dir selbst kommen zu lassen. Die
    Erziehung als Zumutung. Aber dann hast du angefangen,
    deine Erzieher zu betrügen. Du hast mehr als eine
    Persönlichkeit entwickelt.
    Das tut jeder. Keiner ist nur das, was die Erziehung aus ihm machen wollte. Wieviele Persönlichkeiten einer dann
    ausbildet, hängt davon ab, wieviele er zur Befriedigung
    seiner Bedürfnisse braucht. Ein paar Berufspersönlichkeiten und ein paar Privatpersönlichkeiten sind es allemal. Der
    Erfolg dieser Persönlichkeitenentwicklung hängt davon ab,
    wie sehr es dir gelingt, jede Persönlichkeit, wenn du sie brauchst, wenn sie also agiert, als deine einzige zu produzieren. Dazu mußt du jedesmal selber glauben, das jetzt seist
    du ganz und gar. Dann wird dir das auch von anderen
    geglaubt. Dieser mozartische Kettenzerbrecher hat dich
    hingewiesen auf deine Gefangenschaft. Also, dem Befreier
    La Mettrie gewidmet: Du als der Gefangene. Von Anfang an.
    Was auch immer du an Fluchten geplant und ausgeführt
    hast, du bist ausgebrochen als der Gefangene, und wo du hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht. Die Lage ist schwieriger als zu La Mettries Zeiten. Sein Haß gegen die
    Vorurteilsfürsten seiner Zeit, gegen die Theologen und
    gegen die das Vorurteil kultivierenden Philosophen, war
    leicht zu haben. Die Szene war danach. Die Szene hat sich verfeinert. Wessen Gefangener bist du denn? Auf jeden Fall
    erleidest du eine Daseinsminderung auf Schritt und Tritt, weil du nicht dein Leben lebst, sondern ein Gefangenen-leben. Das ist geworden aus einem Erziehungprogramm,
    dem man nichts Böses nachsagen kann. Du darfst dich für typisch halten. Andere, die du liebst, wieder andere, die du

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    nicht liebst, kommen dir verwandt vor. Durch Erfahrung
    oder Schicksal. Ihr könnt euch in allem vergleichen, aber daß
    ihr Gefangene seid und wie sehr, das verschweigt ihr vor einander. Du bist jetzt immerhin so weit, daß du dir, sobald
    du dein Gefangensein verheimlichst, nichts mehr glaubst.
    Von allen Persönlichkeiten, die du hast entwickeln müssen, hat sich keine so übermäßig entwickelt wie die des Gefangenen. Daß du nicht sagen darfst, wessen Gefangener du
    bist, macht dich mundtot. Daß dir erlaubt ist, dich für frei

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