Der Augenblick der Liebe
zu
halten, du aber von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch
machen kannst, macht dich vor dir selbst zum Feigling.
Denen, die mit dir zu tun hatten, ist es gelungen, ohne Plan
gelungen, ganz von selbst gelungen, dich zu einem
Menschen zu machen, der von keiner angebotenen Freiheit
Gebrauch machen kann. Er kann einfach nicht. Er ist ein Gefangener. Jeder Versuch, dich frei zu fühlen oder gar zu benehmen, mündete bis jetzt im Schuldgefühl. Das ange-borene oder anerzogene Gewissen. Ob angeboren oder
anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste,
unbetrügbarste Regung, deren du fähig bist.
Die Gegenwelt, deren Gefangener du von Anfang an bist,
ist das Gute. Das jeweilige Gute. Das immer so genannte, das
immer anerkannte, das herrschende Gute. Du kannst den
Mund nicht aufmachen gegen das Gute, ohne dir schlecht
vorzukommen. Du erkennst das, was als das Gute gilt und herrscht und es wahrscheinlich sogar ist, du erkennst es nicht an. Aber du wagst es nicht, daraus Handlungen
werden zu lassen. Du bist der Gefangene, das heißt, du
darfst nicht sagen, was du denkst; du darfst nicht handeln, wie du willst, sondern du mußt leben, wie du mußt. Und 126
daß Rousseau meint, wer glaube, der Herr über andere zu sein, sei noch mehr ein Sklave als jene, über die er Herr ist, hilft dir nicht. Das ist die Gerechtigkeitsillusion. Von dir wird sogar verlangt, daß du dein Gefangensein kein bißchen
sehen, spüren, merken läßt. Alle deine Verrichtungen,
Äußerungen, Handlungen müssen aussehen, als geschähen
sie freiwillig. Bis zum Aberwitz werden Wörter gedrillt, wird
die Grammatik gequält, um zu beweisen, der Mensch habe
einen freien Willen. Das wiederum findet statt, um ihn
bestrafbar zu machen. Dabei ist zuzugeben, daß schon die Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe, ein Witz ist.
Jede Frage kann so beantwortet werden, wie sie es wünscht.
Mehr noch, sie enthält die Antwort ganz und gar. Anders wäre dein Leben die stummste Trostlosigkeit. Aber da du
durch Erfahrung weißt, daß du genau so keinen freien
Willen hast, wie du einen freien Willen hast, kannst du dir einbilden, es gebe überhaupt Spielraum. Eines Tages wird
das Leben auf deine Träume hören. Es kann nicht anders.
Und das Wichtigste: Du hast in deinen Träumen keine
Schuldgefühle. Du unterliegst zwar regelmäßig und mußt
Mißhandlungen und Demütigungen hinnehmen; aber immer
erst, wenn du ausgebrochen bist, aufgebrochen bist, wenn
dir eine im Traum nicht meßbare Zeiteinheit lang Freiheit ge‐
lungen ist. Shakespearisierend kannst du dir in deinen
Träumen vorkommen. Trotz der Bestrafungen, denen du
dann regelmäßig unterworfen wirst, trotz der Gemeinheiten,
die dir dann körperlich und seelisch angetan werden, du
hast Freiheit gehabt. Du warst nicht meßbare Zeiteinheiten lang frei von Schuldgefühlen. Das wird durch nichts so
deutlich wie durch das Erwachen. Der Sturz des Gefangenen
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in sein Zeug. Das Verstummen. Das Verneintsein. So sehr, daß du es nicht nur geschehen läßt. Der Grad des Verneintseins produziert eine diesem Grad entsprechende Kraft.
Zuerst nur als Vorstellung. Aber je unverfälschter du dem Gefangensein als Verneintsein erlebst, um so deutlicher
erlebst du diese Kraft, die wirkt, als könntest du alles, was du willst. Das kann doch nicht nur eine Einbildung sein, ein
Schattenkringel an der Wand der Zelle, in die keine Sonne fällt? Die Frage ist die Antwort. Kolumbus hatte die Him-melsrichtung. Der Rest war Seemannschaft. Die Sprache, in der du es jetzt ausdrückst, ist eine Sklavensprache. Sie ist ein Signal. Verständlich, hoffst du, denen, die auch in einer Gefangenschaft leben. Vielleicht ruft einer zurück. Oder viele
rufen zurück. Illusion. Des Gefangenen. Daß das so ist, ist dir
denkbar geworden durch den emsigen Umgang mit dem,
der die Ketten des Vorurteils und der Schuldgefühle
zerbrach. Julien Offray de La Mettrie. Der Umgang mit ihm
wird fortgesetzt. Am 20. Mai 1887 schrieb Nietzsche an einen
Freund: «Die Behauptung Platoʹs, daß man mit Massage
sogar Gewissensbisse heilen könne, verdiente, erprobt zu
werden.» Heureka!
Das durfte sie doch wohl Glück nennen. So muß es auf dem
Kolumbus‐Schiff gewesen sein, als die Neue Welt in Sicht kam. Ein aus dem Innersten stammender Jubellaut, der da
drin schon so lange gewartet hatte, immer unterdrückt,
immer wieder belehrt, daß es noch nicht so weit sei, daß es vielleicht überhaupt nie
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