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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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überlassen. Dort mußt du dich verkrampfen, mußt die Natur bekämpfen. Hier genügt es, sich nach sich selbst zu richten, zu sein, was man ist, und gewissermaßen sich selbst zu ähneln; dort mußt du, ob du willst oder nicht, den anderen ähneln; leben und bald auch noch denken wie sie. Was für ein Affentheater! Und er hatte sich für das HIER entschieden: Se laisser doucement aller aux agr é ables impulsions de la nature.
    Aber auch dazu paßt (in seinem Fall) der Ausruf: Quelle comédie!

    2.

    Fast als letzte kam sie. Also nicht mehr zwischen Pas‐
    sagieren. Fast allein kam sie aus der Tiefe eines langen, 140
    breiten Gangs. Das Kosmetikköfferchen hatte sie in der Lin‐
    ken, angewinkelt vor der Brust. Wahrscheinlich aus Gleich-gewichtsgründen, weil sie mit der Rechten ein Gepäckstück am ausgefahrenen Griff hinter sich herzog. War das so
    schwer? Schleppte sie? Oder spielte sie eine, die schleppt? Sie
    spielte die Schwache, Kleine, die vor Schleppenmüssen
    gleich Ohnmächtige. Ihre Hand, in seiner Hand. Nicht
    quetschen wie Rick Hardy. Aber auch nicht so lasch fingern
    wie Glen O. Rosenne. Zeig, was du gelernt hast. Er zog sie an
    sich, nahm dann ihren Kopf in seine Hände wie etwas
    Kostbares und küßte sie eher andächtig auf die linke und auf
    die rechte Schläfe. Keine wilde Küsserei. Andacht. Andacht empfand er, wollte er ausdrücken, vielleicht sogar noch
    mehr, als er empfand. Ihr wollte er grell zeigen, daß er aus sanftester Andacht bestand. Alles, was gezeigt wird, ver-selbständigt sich doch. Die Mischung zwischen Inhalt und
    Form kann bei keinem Schauspieler anders sein. Er hatte ja nichts vorgehabt, aber jetzt, da er ihren Kopf in seinen Händen hatte, überwältigte ihn diese Andacht. Und machte
    sich eben selbständig. Dann hielt er ihren Kopf weiter weg.
    Offenbar zur Betrachtung. Sie ließ sich betrachten. Er
    betrachtete sie. Sie ihn eben nicht. Sie war ganz in seinen Händen. Das war eine Rolle. Die füllte ihn ganz schön aus.
    Mein Gott. Wer war er, daß er ein Mädchen betrachten
    durfte, als habe er es gemacht! Ihre Nase hatte er vergessen
    gehabt. Die hatte es schwer, sich zwischen den großen
    Augen und dem fast geschwollenen Großmund zu be‐
    haupten. Ach, du, sagte er. Und ließ es erstaunt klingen. Du
    auch, sagte sie. Und wie sie das sagte. Universell. All-umfassend. Und schloß nach dem auch den Mund nicht 141
    mehr. Die ziemlich großen Lippen hingen auseinander, die
    Zähne zeigten sich, das wirkte in diesem Augenblick kühn.
    Mit dem Coach Service zum Hotel. Da war man, zum Glück,
    nicht allein.
    Er hatte, zum Glück, bevor er das Zimmer verlassen hatte,
    die Vorhänge so weit zugezogen, daß ein Zwielicht entstand.
    Sie sehe bestimmt aus wie Wum, sagte sie. Er wußte nicht, wer Wum ist. Der Hund, den Loriot erfunden hat. Das haue
    sie doch glatt um, die ganze Welt kennt den melancholisch‐
    witzig‐dümmlichen Loriot‐Hund. Vor lauter Verwunderung
    ließ sie sich auf das Bett fallen, schlüpfte dann aus den Schuhen, drehte sich und imitierte, auf dem Bett kniend, den
    Kopf in Schieflage, diesen Hund. Er hatte das Gefühl, er müsse Beifall klatschen. Und tatʹs. Sie sagte, sie sei Loriot-Fan. Und fügte hinzu: Gewesen. Und produzierte gleich ein
    paar Figuren und Gesten und Witze, die sie zum Fan dieses
    Comic‐Virtuosen hatten werden lassen. Und unterstützte,
    was sie sagte und zitierte, durch Mimik und Gestik. War sie
    wirklich so hingerissen oder wollte sie ihm vorführen, wie hingerissen sie sein konnte? Er mußte Beifall spenden. Sie konnte ja noch ganze Sketche von dem auswendig. Es wurde
    ihre Show. Er setzte sich. Als Zuschauer. Dann sprang sie plötzlich vom Bett, schlüpfte aus ihrem Kleid, ließ es auf den
    Boden rutschen, und setzte sich auf ihn und umschlang ihn und küßte ihn. Da konnte er wieder mitmachen. Er mußte
    die sogenannte Initiative übernehmen. Sie mußte noch sagen,
    sie geniere sich nicht, zuzugeben, daß sie Loriot‐Fan gewesen
    sei. Er tat so, als begriffe er nicht, wieso sich jemand genieren sollte, Loriot‐Fan gewesen zu sein. Er sagte aber nicht, daß er
    das Wort Fan überhaupt nicht schätzen könne. Offenbar war

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    er schon zu alt gewesen, als es zum ersten Mal bei ihm auftauchte; Scharen oder Massen meist junger Menschen
    strecken ihre Hände in die Höhe, immer einem oder einer Angebeteten entgegen, Augen und Münder gleichermaßen
    irre aufgerissen, Ekstase als Massenwahn, so hatte er das Wort Fan kennengelernt.

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