Der Augenblick der Liebe
er sich noch fest im Investors Business Daily. Den würde er, solange er im Land war, täglich kaufen. US. A Safe Bet. Und zwar im Real Estate Geschäft. Schon daß hier die 137
Immobilie Real Estate hieß! Estate, ein Wort, in dem nur Feines mitschwingt: Klasse, Eigentum, Besitz, Landbesitz.
Dank des schwachen Dollars sind Real Estate Geschäfte für,
zum Beispiel, Deutsche 35 Prozent billiger als vor zwei
Jahren. I see a lot of German money Coming over this year, sagte gerade der Präsident der Prudential Property Company. Gottlieb interessierte sich nur Annas wegen für die US‐Immo‐
bilien. Ach nein. Ach doch. Jetzt die Seite Real Estate Business aus dem heutigen Investorʹs Business Daily heimfaxen, daß Anna sähe, er denkt ans Geschäft, das wärʹs. Aber das
schaffte er nicht. Anna könnte die Kartei durchblättern und die Seite gezielt weiterfaxen. Ach, Anna. Er verbrauchte hier
Geld, das Anna verdient hatte. Und es ist spürbar toll, Anna,
hier dein Geld zu verbrauchen. Jawohl. Er investiert ins Leben. Verstehʹs, wer will. Daß dieses Mädchen ihn liebt und
wie sie ihn liebt, das ist doch ein Wunder. Und über Wunder
muß man nicht nachdenken. Man muß sie pflücken, basta.
Sorry, Anna. Was hatte er gerade noch im Investorʹs Business Daily gelesen? Das war doch sein Satz, sein Reise‐Motto! Auf der Titelseite des Investorʹs Business Daily, einer ist verurteilt zu zwei Jahren, Spitzenfigur des Wallstreet‐Rings für
verbotene Insider‐Geschäfte, und, bitteschön: In a clear firm voice, Kowalski told the judge he «abused the System I believed in and I will never forgive myself». Und kriegt statt möglicher zwölf Jahre nur zwei, weil durch seine Kooperation der
ganze Ring aufflog. Fabelhaft. Dieses Schuldgefühl. Groß‐
artig. Das läßt sich noch lernen. 12,6 Millionen hat er gemacht. Bewundernswert. Und dafür zwei Jahre, Anna, sei
deinem Gottlieb gnädig, he will abuse the System he believes
in, but he will never forgive himself, never, Anna. Die Wör‐
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ter sind Huren. Zum Glück. Ach ja, Meine Gedanken sind meine Dirnen. Diderot. Nicht umsonst hat Dostojewsky einen seiner begabten Lügner, nämlich den Karamasow‐Vater
Fjodor Pawlowitsch, verkünden lassen, Diderot sei zum
Metropoliten gepilgert, sei dem Kirchenfürsten zu Füßen
gefallen und habe geschrieen: Ich will mich taufen lassen.
Diderot, den Gottlieb nicht liebt. La Mettrie liebt er ... ich werde nichts, was meine Sinne nicht erreicht, als ein uner-forschbares Geheimnis gelten lassen. Meine Sinne. Und mit denen ist kein Bund zu schließen. Wir sind ein Schiffbruch, der sich als Stapellauf gibt. Großartig.
Als Reiselektüre hatte er den XV. Band der Werke Rous‐
seaus dabei. Ein Bändchen mehr als ein Band. Es hatte zum
Nachlaß eines homosexuellen Barons gehört. Gottlieb hatte
den Nachlaß erworben, als er die Villa dieses Barons vor vielen Jahren an einen Käufer vermittelt hatte, der von der Bibliothek nichts wissen wollte. Auf der Seite vor dem
Titelblatt war mit einer breit ausfallenden Feder eingetragen
worden: Von Dr. Wiedersheim aus dem Schloß Sassoz, Marg., Argonner Wald, am 28. IX. 1914 «requiriert» & mir am 1.Nov.
1914 geschenkt. V.v.L. Das Bändchen, verlegt 1823, wurde eröffnet mit den Lettres a Sara. Sara ist dreißig Jahre jünger als der, der ihr vier Briefe schreibt. Der Autor im Vorwort: Auch ein alter Knacker könne bis zu vier Liebesbriefe
schreiben und immer noch aller Ehren wert sein, aber sechs
Liebesbriefe könne er, ohne sein Gesicht zu verlieren, nicht schreiben. Gottlieb hatte sich die Stellen anstreichen müssen,
die ihn ganz direkt angingen.
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Die schlimmste Folter für mich ist, mich zu sehen,
wie Du mich siehst.
Seine Themire hatte ihm in keinem Brief das WARUM
erständlich machen können, warum sie ihn angeblich liebe.
Und sein französischer Vorgänger war erst fünfzig gewesen.
Die unglaubwürdigen Zärtlichkeiten der Zwanzigjährigen
seien für ihn nichts als eine weitere Demütigung. Ich liebe in der furchtbaren Gewißheit, nicht geliebt werden zu können. Gott-iebs Reiselektüre. Er stimmte zu. Und widersprach. Wehrte sich. Forderte für sich die Ausnahme. Das Wunder. Je mehr
er dem Rousseauschen Briefschreiber zustimmen mußte,
desto heftiger widersprach er ihm. Und kramte in seiner
Tasche nach dem Blatt mit der La Mettrie‐Stelle, die jetzt seine Lieblingsstelle war. Hier darfst du dich zwanglos dem willkommenen Drängen der Natur
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