Der Augenblick der Liebe
er immer kühnere Zugriffe probierte, auch solche, die Anna brüskierten, beleidigten, blamierten und sie sogar aus dem Gerichtssaal jagten, es gelang ihm nichts. Er rannte Anna nach, redete sich im Hinausrennen ein, daß er das Anwaltsmädchen überschätze. Aber wo war Anna? Ihn schüttelte eine furchtbare Angst. Er wachte auf. Und sah das Anwaltsmädchen vor sich. Als wäre sie da. Sie war aber nicht da. Aber er sah doch ihre lockere Oberlippe, die gekräuselten Haare bis zur Ohrmitte, dann den langen nackten Hals. Wie sollte er da weiterleben? Was für eine Fehlentwicklung ist der Mensch. Er würde das Leben boykottieren. Diesen Schmerz, nein danke, das läßt er sich nicht gefallen. Gäbe es ein Jenseits, könnte er sich um bringen. In der Hoffnung, das Anwaltsmädchen erwarte ihn dort. Aber es gibt nichts. Dort nichts. Hier nichts. Nirgends nichts. Er hatte Anna den ganzen Tag lang nicht sagen, nicht verzeihen können, woran sie ihn in dieser Nacht gehindert hatte. Und dann diese Besucherin. Mit der Sonnenblume. In deren gelbumflammte dunkle Unergründlichkeit konnte er jetzt starren.
2.
Anna kam, er saß immer noch auf der Terrasse. Guten Abend, sagte sie und ließ ihre Lippenpartie ein bißchen entgleisen. Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie¹s gern? Gottlieb sagte: Unglaublich.
Und Anna: Vor allem die Sonnenblume.
Gottlieb nickte so sachlich wie möglich. Anna legte auf den Tisch, was sie geleistet hat, den Pfullendorfer Abschluß, die Hälfte der Provision, per Scheck, EURO 6000. Gottlieb stand auf. Er würde das sofort buchhalterisch erledigen. Gratuliere, sagte er. Ich dir, sagte sie. Ja, sei doch tief rührend, kommt so eine jungschöngescheite Philosophin aus Amerika, um Wendelin Krall anzuschauen. Wie ich sehe, habt ihr das gebührend gefeiert. Zeigte auf die halbleere Calvados Flasche. Und daß er mitgetrunken habe, zeige doch, wie nahe ihm dieser Besuch gegangen sei.
Gottlieb konnte jetzt nicht sagen, daß er erst getrunken habe, als die Besucherin wieder weg gewesen sei. Das war ja noch viel schlimmer, als mit ihr zusammen zu trinken. Jetzt nimm¹s nicht so schwer, sagte Anna, vierzig Jahre, das kann man doch auf sich beruhen lassen. Gottlieb dachte: Woher weiß sie das, vierzig Jahre, es können genau so gut zweiunddreißig Jahre sein oder sechsunddreißig. Typisch Anna. Alles so negativ wie möglich. Immer schon. Immer ist alles zu Ende. Sie zieht dich hinab. Nicht absichtlich. Unwillkürlich. Ihre Spezialität, in allem das Ende heraus zuspüren. Besonders an lichtlosen Tagen. Sie war immer lichtabhängig. Das Licht regelte alles bei ihr. Wenn sie Ende Juni spazieren gingen und alles noch blühte und grünstens prangte, konnte sie sagen: Der erste Herbsttag heute. Und das lag am Licht. Wenn er, durch sie aufmerksam geworden, dieses Licht mit seinen Sinnen prüfte, mußte er ihr recht geben, durch irgendwelche Druck und Feuchtigkeitsum stände war trotz aller Grünherrschaft ein Hauch kühles Gold in der Luft, ein Herbstschimmer, unverkennbar. Er, vom oberflächlich herrschenden Grün eingenommen, hätte das nicht bemerkt.
Er ging an ihr vorbei, zeigte, daß er die Papiere versorge, den Scheck werde er morgen gutschreiben lassen. Bloß kein Gespräch jetzt. Er mußte ihr jetzt bestätigen, daß auch er der Ansicht sei, eine vierzig Jahre jüngere, das könne man auf sich beruhen lassen. Auf sich beruhen, oh Anna! Ist ja gut. Solange er nichts sagen muß, erträgt er alles. Wenn er ihr nur nicht ins Gesicht sagen muß: Stimmt, vierzig Jahre, da erlischt jedes Problem! Sie sagte,
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