Der Augenblick der Liebe
Das war die erste Rezeption in Deutschland. Wenn auch, weil dem Großen Friedrich das französische Sprachcostume lieber war, auf Französisch.
Anna sagt Vierzig Jahre, und er rennt los und kämpft gegen die Windmühle namens Vierzig. Und wenn es dreißig, zwanzig oder zehn Jahre wären − was würde das an der Entfernung zu der Besucherin ändern? Nichts. Sie kann verlobtverheiratetverliebt und sonst was sein. Vielleicht läßt sich ihretwegen der Professor gerade scheiden. Sie tele phoniert, solange sie unterwegs ist, jede Nacht eine Stunde mit ihm. Und ihn hetzt Anna mit einer Zahl auf die Unmöglichkeitsstrecke, nicht ahnend, daß Gottlieb sich diese Sorte von Unmöglichkeit nicht gefallen läßt. Man kennt einander, wenn es darauf ankommt, nicht. Etwas Aussichts loses dieser Art, das kann er sich nicht gefallen lassen, da geht er die lange, lange Uferstraße hinaus nach Westen und wieder zurück, bis er jedes Haus auf der Landseite zweimal angeschaut hat. Der Altimmobilienhändler prüft und prüft. Fast glücklich. Er folgt einer Notwendigkeit, er will jetzt nichts als Langenargener Häuser auf der Landseite der Uferstraße anschauen. Jedes Haus kann es sein. Aus jedem Haus kann sie schauen. Auf jedem Balkon sitzen. Also mehr muß doch nicht sein als eine solche Betäubung der Aus sichtslosigkeit. Dieses Erlebnis der reinen Notwendigkeit: Geh und schau und schau. Und schau noch einmal. Du fieberst vielleicht. Aber du schaust.
Und fuhr zurück. Erfüllt, fand er, von einer überirdischen Müdigkeit.
Zu Hause schlich er sich ins Haus und ins Bett. Anna sah noch fern, also hörte sie ihn nicht kommen. Als er im Bett lag, versuchte er, etwas zu denken, was nicht zu Beate Gutbrod führte. Als das nicht gelingen wollte, probierte er, was in ihrem Namen als Noten vorhanden war, zu summen oder leise zu singen: Beae. Also Bea könnte er sie nennen. Oder das t zum d machen, dann klingt es so: Beade. Das letzte e wie das erste. Da fiel ihm Brahms ein, der wollte eine Agathe in Musik verwandeln und komponierte einen inni gen Ruf aus aga − he. Gottlieb hätte die Innigkeitssignale, seins und das von Brahms, jetzt gern auf dem Klavier mit einander verglichen, aber das Klavier stand im selben Zim mer wie der Fernseher. Er würde sich nicht wehren. Selbst die Wunde namens Gabriele hatte sich eines Tages geschlos sen angefühlt. Und das war ... nein, keine Vergleiche. Damals waren in acht Tagen sechzehn Briefe eingetroffen. Eine heftige Theologin war vom La MettrieFieber befallen worden und mußte das dem sagen, der schuld war oder dem sie das verdankte. Dann das Ausleben einer gemeinsamen Befallenheit. Er war jetzt allein. Das war zumutbar. Wenn er nur wirklich allein gewesen wäre. Wenn er nicht alles, was in ihm geschah, hätte weitersagen müssen. Anna war das Problem, nicht Beate. Vierzig Jahre, bitte, von ihm aus auch fünfzig oder sechzig. Solange er mit sich allein war, ertrug er alles. Aber daß es von ihm erwartet, ja verlangt werden konnte, so etwas einem zweiten Menschen, und sei es Anna, verständlich zu machen, das erbitterte ihn. Ohne zu lügen ging da nichts. Irgendwann hatte das gewöhnliche Lügen aufgehört. Das Leben war mitteilbar geworden, Anna und er waren ein Paar, enger bei einander, glaubten sie, als alle, die sie kannten. Anna hatte eine Stimmung entstehen lassen − und er hatte zugestimmt −, eine Stimmung des Alleshinter sichhabens. Ihnen konnte nichts mehr passieren. Ihnen passierte auch nichts mehr. Ihm passierte nichts mehr. Es durfte nur nicht erwartet, ja verlangt werden, daß er, was ihm
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