Der Augenblick der Liebe
sie habe sich doch auch darüber gefreut, daß Wendelin Krall noch so schöne Wirkungen zeitige. Von seinen Pseudonymen sei ihr Wendelin Krall immer das liebste gewesen. Das sei doch einfach ein lieber Name. Wendelin Krall. Er nickte. Verbarg, daß er staunte. Berührte sie leicht an der Schulter. Dann hörte er sich sagen, er müsse noch wegfahren, heute. Wohin, fragte sie. Er komme ja gleich wieder, sagte er. Er holte seinen Autoschlüssel, gab sich eilig, fuhr ab. Nur nichts sagen müssen jetzt. Daß das erwartet, ja verlangt werden kann, immer alles sagen! Das ist doch Seelenmord. Er will doch selbst nicht wissen, wie es in ihm momentan aussieht. Und dann soll er es Anna so sagen, daß sie es nicht nur versteht, sondern auch noch billigt! Ohne zu lügen nicht zu machen. Und lügen in Gottliebs Alter − das war Seelenselbst mord. Er war sich im Augenblick nur erträglich, wenn er nichts sagen mußte. Einfach nur tun, was er mußte. Aber nichts sagen, nichts erklären. Jetzt fuhr er also offenbar nach Langenargen. Und durch Langenargen, bis zur Uferstraße. Eine Großtante, die im Mercedes zur Bridgepartie nach Bad Schachen fährt, haust nicht in einer Zweizimmerwohnung. In der Gegend der Villen hatte Gottlieb, als er noch den Han del besorgte, mehr als ein Haus von innen kennengelernt.
Eine Familie Gutbrod hatte nie zu seinen Kunden gehört, weder als Käufer noch als Verkäufer. Aber vielleicht hieß die Großtante gar nicht Gutbrod. Beate Gutbrod. Er konnte sich nicht vorstellen, die Besucherin je Beate zu nennen. Sie hatte mit fortschreitendem Calvadoskonsum manchmal von ame rikanischen Gewohnheiten Gebrauch gemacht und ihn Wendelin genannt. Immer eingebettet in Sätze. Nie am Anfang oder am Ende eines Satzes. Immer deutlich in ameri kanischer Routine, also ohne privaten Anteil. Beate? Ob er diesen Namen erlernen könnte? Jetzt spielte er den, der die Uferstraße auf und ab schlendert. Der schwarze Mercedes mußte inzwischen in Bad Schachen stehen. Auf keinem Schild der Name Gutbrod. Er hätte im Telephonbuch nach dem Namen suchen sollen. Anrufen. Was dann sagen? Vielleicht war der Großonkel am Apparat. Die Welt war eine Verschwörung. Alles setzte sich durch gegen ihn. Er durfte nichts unternehmen, sich durchzusetzen. Was er wollte, war so wenig möglich, so wenig erlaubt, daß er nicht den geringsten Versuch machen durfte, seinen Willen durchzu
setzen. Bitte, was wollte er denn? Schon das zu formulieren war unmöglich.
Das einzige, was ihn jetzt sich selber fühlbar machte, war seine Einsamkeit. Niemand wußte in diesem Augenblick, wo er war, was er dachte. Was er wollte, wußte er nicht einmal selbst. Es mußte ja etwas sein, was er wollen konnte. Beate Gutbrod am Telephon, wollte er das? Die einzige Frage, die er stellen müßte, wäre: Sind es tatsächlich vierzig Jahre? Schon achtunddreißig wäre eine Zahl, die er gern nachge betet hätte. Nur nicht vierzig, bitte. Anna hatte instinktiv die unangenehmste Zahl genannt. Vierzig Jahre, das konnte man wirklich auf sich beruhen lassen. Aber Beate Gutbrod lehrt immerhin schon. Teaching Assistant. Und Beate Gutbrod war keineswegs die jedes Problem frontal angehende Intellektuelle. Sie erlebte jede Frage, bevor sie sie löste. Sie rief alles, was sie im Computer hatte, auf und herbei und ließ es vor Gottlieb paradieren. Der staunte. Den 250. Todestag des frechen Genies hatte sie also zum Prüfdatum ernannt. Immerhin konnte sie ausgehen von der Gedächtnisrede, die der Große Friedrich auf La Mettrie verfaßt hatte und in der Akademie der Wissenschaften verlesen ließ.
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