Der Augenblick der Liebe
La Mettries Werk. Wendelin Krall redivivus! Solche Beispiele suche sie. Vielleicht sei sie zu wenig Wissenschaftlerin. Auf jeden Fall zu wenig Historikerin. Noch glaube sie an das Leben, und wo es in der Geschichte verschwinde, interes siere es sie nicht mehr. Erst wenn die Geschichte im Leben verschwinde, erwache ihr Interesse. Es war mir eine Ehre, Herr Krall. Die Großtante wartet, zum Glück. Und sie gleißt vor Pedanterie. Sonst könnte ich doch gar nicht gehen. Gestehe ich. Freimütig. Im Namen La Mettries.
Sie standen noch immer in der geöffneten Tür, Gottlieb drückte ihre kleine Hand, drückte sie ein bißchen mehr, als er wollte, sie ging auf die andere Straßenseite, da stand das Auto der Großtante, ein mittlerer Mercedes, sie stieg ein, öffnete das Fenster, winkte herüber, fuhr ab, aber im Davon fahren streckte sie den Arm heraus und winkte noch einmal.
Gottlieb merkte, daß er ihren letzten Blick, ihren letzten Gesichtsausdruck, nicht loswurde. Ein vorwurfsvoll ge schürzter Mund. Das hieß wahrscheinlich: So trübsinnig wie Sie steht man nicht in der Welt, wenn man La Mettrie intus hat. Dieser Vorwurfsmund wurde unterstützt durch das massive Augenblau. Er forschte geradezu, ob in den Augen nicht auch eine Leidensahnung mitwirke. Und entdeckte nichts. Nur Lebensfreude, Wissenschaftslaune, Übermut. Gottlieb fühlte sich wie ein Patient, bei dem die Betäubung nicht funktioniert. Man hat ihm doch versprochen, er werde von der Operation nichts spüren, und jetzt, die Operation in vollem Gang und er erwacht aus der Betäubung. Gerade daß er es noch schaffte, den Schrei zu unterdrücken. Er rannte ins Haus, rannte durch das Haus, hinaus auf die Terrasse, setzte sich auf den Platz, auf dem sie gesessen hatte, und schenkte sich einen Calvados ein. Was sind das für tönerne Begeg nungen. Man spricht mit einander, um nichts zu sagen. Das Wichtigste wäre gewesen, dieser Besucherin zu sagen, was er in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Geträumt hatte, weil er wußte, am nächsten Tag komme sie. Nein, bitte, das nicht. Das ist Traumdeutungsquatsch. Aber seinen Traum hätte er ihr servieren müssen. Ohne alle Anspielungsten denz. Nur daß sie gewußt hätte, mit wem sie am Tisch saß, diese übermütige Wissenschaftszicke. Aber so wie die Welt ist, war es undenkbar, daß er ihr diesen Traum servierte. Dafür Tarte Tatin, ungestürzt.
Und war doch, bis zu ihrer Ankunft, herumgewatet im Gewölk dieses Traums. Eine Rechtsanwältin hatte ihn ver teidigt. Sie war nichts als jung. Brüste, die frech hinaussta chen. Steile Spitzen sah er. Sie war überhaupt nicht ange zogen wie eine Anwältin, sondern wie ein Mädchen. Anna war auch im Gerichtssaal. Es war im Saal nicht überall gleich hell. Er und das Anwaltsmädchen gaben einander Zeichen des Einverständnisses, aber so, daß es niemand bemerkte, weder Anna noch der Richter. Immer wieder mußte er versuchen, das Anwaltsmädchen zu berühren, sie weiter hinten im Saal in eine Bank zu ziehen. Es gelang auch diese und jene Berührung, aber beide wollten mehr beziehungs weise alles. Immer kam Anna dazu und zog etwas aus der Tasche, was im Augenblick für den Gang der Verhandlung wichtig war, Beweisstücke zu Gunsten ihres Mannes. Zum Beispiel einen blau und rot angemalten voluminösen Schinken, der durch diese Bemalung märchenhaft schön aussah. Das Anwaltsmädchen rief: Jawohl, das ist die Ehe! Während sie das rief, preßte er sich von hinten an sie. Es mußte doch möglich sein, diese höchste Bereitschaft zweier Menschen in eine Wirklichkeit zu überführen. Aber obwohl
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