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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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ich.
    »Ich will gern mit dir essen gehen. Das hat mit dieser Sache nichts zu tun.« Sie legte ihre Hand auf meine und sah mir in die Augen, und ich wurde verwirrt und ein wenig nervös, als wäre ich wieder siebzehn. Ich wußte nicht recht, wohin das führen sollte, aber ich wußte, daß ich mein Gefühlsleben nicht unter Kontrolle hatte.
     
    »Darum geht es nicht«, sagte ich.
    »Worum dann?«
    Ich erzählte ihr von meinem Wunsch, meine Akten in Berlin einzusehen, aber daß ich nicht wüßte, wie das in Angriff zu nehmen sei, und daß ich hoffte, sie würde mir helfen.
    »Gern, Peter. Aber viel kann ich nicht tun«, sagte sie.
    »Du kannst doch die Kollegen in Deutschland anrufen und mir Zutritt verschaffen.«
    »Nein. Ich würde zwar gern, aber ich kann das nicht einfach so tun. Aber du kannst selber Zutritt bekommen. Die alten Stasi-Archive sind öffentlich, doch der Andrang ist wahnsinnig groß.
    Es gibt ellenlange Wartelisten. Es gibt 180 km Aktenregale. Die Stasi hatte 280000 Angestellte und eine Unzahl Informanten.
    Die ganze DDR war ein großes Spitzelnest. Alle haben über alle berichtet, und viele wollen eben sehen, was über sie da drinsteht.«
    Clara machte eine Pause und nahm ihre Hand von meiner.
    »Ich kann dir die Adresse geben. Ich kann dir helfen, das Schreiben zu verfassen. Ich kann ein paar Leute anrufen und sie veranlassen, deinen Antrag auf Akteneinsicht zu beschleunigen, aber ich kann dir keinen Zutritt vor allen anderen verschaffen.
    Und warum willst du deinen Ordner sehen?«
    »Vielleicht liegt darin eine Antwort. Vielleicht auch nicht.
    Aber ehe ich es nicht versucht habe, wird es mich nicht loslassen«, sagte ich.
    Sie riß eine Seite aus ihrem Block und lächelte mich an.
    »Wir haben es ja mit Deutschland zu tun, nicht wahr? Kannst du Deutsch?«
    Ich nickte, und sie sagte, während sie gleichzeitig schrieb: »Na denn. Die Stelle heißt: ›Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik‹. Sie ist im alten Hauptquartier der Stasi in der Normannenstraße untergebracht. Die Stasi hat über einen riesigen Bürokomplex verfügt, der sich über mehr als eine Straße erstreckte. Nach dem Fall der Mauer versuchten Stasi-Leute soviel wie möglich einzustampfen oder zu verbrennen, und wütende Demonstranten zerstörten weitere Unterlagen. Und trotzdem gibt es noch Millionen von Akten, die öffentlich zugänglich sind. Aber, und das ist das Wesentliche: Sie sind öffentlich zugänglich für jedermann, und wer registriert ist, kommt zuerst dran. Verstehst du? Das ist nicht so, daß ich zuerst drankomme, nur weil ich im Nachrichtendienst eines befreundeten Landes bin. Das ist das Demokratische und das Hoffnungslose daran.«
    Ich nickte wieder.
    »Im täglichen Gebrauch sagt man einfach Gauck-Behörde. Der mußt du schreiben. Die ganze Idee, Einsicht nehmen zu dürfen, ist nach Joachim Gauck benannt, der Pfarrer in der DDR war und nun dieses ganze maßlose Beweisstück der DDR-Paranoia leitet.«
    »Was muß ich schreiben?«
    »Du schreibst, daß du annimmst, registriert zu sein. Sie untersuchen, ob das zutrifft, und falls ja, kriegst du ein Schreiben mit einem Termin, an dem du kommen und deine Akte studieren kannst. So einfach ist das. Aber vorher säubern sie deine Unterlagen, damit nicht das Privatleben unschuldiger Dritter bloßgelegt wird. Das ist einzigartig in der Geschichte.
    Weder demokratische noch sozialistische Länder haben ihre Archive in diesem Maße für alle und jeden geöffnet. Einerseits freut mich das. Andererseits erschreckt es mich.«
    »Wenn wir die Erlaubnis bekämen, euch in die Karten zu gucken, meinst du?« sagte ich.
    Sie mußte herzlich lachen.
    »Ja. Das wär nicht nett.«
    Ich lehnte mich vor und sagte: »Gibst du mir die Adresse?«
     
    »Ich kann den Brief für dich schreiben, Peter. Und dann brauchst du nur zu unterschreiben. Wenn du wirklich willst.«
    »Warum sollte ich nicht wollen?«
    »Viele Leute kommen nicht gerade glücklich aus dem Lesesaal des alten Stasiarchivs.«
    »Und warum?«
    »Weil – und jetzt rede ich eigentlich gegen das Wesen meines Jobs – die Wahrheit nicht immer nötig ist. Man braucht nicht zu lügen. Aber manchmal sollte man mit der Wahrheit nicht zu verschwenderisch umgehen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Das ist wie mit dem Krankenbericht. Ist es wirklich immer nötig, alles zu wissen?«
    Ich bemerkte eine Veränderung in ihrem Gesicht. Ein Schatten legte sich

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