Der Augenblick der Wahrheit
schrumpfte Gloria vor meinen Augen zusammen.
»Ich glaube, er ist in Moskau«, sagte ich.
»Moskau. Warum denn das? Was macht mein Mann denn in Moskau?«
»Er ist nicht dein Mann, und das ist eine lange Geschichte, Gloria.«
»Vielleicht würdest du jetzt der frischgebackenen Witwe freundlicherweise die Geschichte mal verklickern? Wir sind alte Freunde, Peter. Aber was ist hier los?« sagte sie.
Ich legte ihr das Bild von Oscar in Uniform vor, sie nahm es in die Hand, schaute es lange an und rauchte noch eine Zigarette.
Sie war eine starke Frau, eine Veteranin intriganter Verhandlungen in der Geschäftswelt, verzehrender Kämpfe bei Gericht und der Gefühlsstürme, die sie und Oscar trotz allem durchgemacht hatten. Sie war nicht so schnell k. o. zu schlagen, sie kam langsam wieder an die Oberfläche, so daß ich ihr Karl Heinrichs und Lolas Geschichte erzählen konnte, und sie hörte zu, ohne mich zu unterbrechen und ohne dramatische Ausbrüche. Ihre Gemütsbewegung verriet sie, indem sie eine Zigarette nach der anderen rauchte, während ich vom fast ein Vierteljahrhundert währenden Doppelleben des Bigamisten berichtete.
Gloria nahm es verblüffend ruhig auf. Andere Menschen wären vielleicht zusammengebrochen, aber ich sah ihr an, daß bei ihr der Verrat keine Tränen hervorrief, sondern den gleichen eiskalten Zorn, den ich selbst fühlte. In vieler Hinsicht paßten wir zusammen wie Topf und Deckel. Ich konnte Gewalt gebrauchen, ohne mich um die Wirkung zu kümmern, und ich konnte bei Gloria sehen, wie ihr Anwaltshirn siegte.
Sie entschuldigte sich höflich, stand auf und kam zurechtgemacht wieder. Die Schminke war an ihrem Platz, die neue Bluse saß perfekt, das Haar war gekämmt, und der Minirock zeigte den Schlüpfersaum nicht mehr. Sie brachte eine Kanne Kaffee und zwei Tassen und stellte sie auf den Tisch. Sie räumte die Gläser ab und leerte den Aschenbecher, sie war nun wieder die perfekte Gastgeberin. Ich sagte nichts. Ich kannte meine Gloria, ich sah ihr scharfes Gehirn arbeiten. Ich ging davon aus, sie zu kennen. Ihr Leben war zwar von Untreue gegenüber Oscar geprägt, aber mich hatte sie eigentlich nie im Stich gelassen. Sie war kein Doppelmensch. Sie war Gloria. Als sie sich und den Salon wieder hübsch gemacht hatte, setzte sie sich aufrecht und beinahe förmlich mir gegenüber und sagte:
»Das ist in der Tat eine Geschichte, Peter. Was ist dein Plan?«
»Ich will Oscar aufsuchen.«
»Wo?«
»In Moskau.«
»Na klar«, sagte sie. »Ich war zwar noch nie in Moskau, aber soweit ich weiß, wohnen da über zehn Millionen Menschen.«
»Ich nehm mir jemanden, der ihn finden kann«, sagte ich.
»Na gut. Und warum willst du ihn finden?«
Ich nippte an meinem Kaffee. Er war heiß und stark, wie nur Gloria ihn machen konnte. Wie wir drei ihn unzählige Male getrunken hatten, wenn wir über unser gemeinsames Geschäft und unser gemeinsames Leben sprachen. Warum wollte ich Oscar finden? Gute Frage. Um aus seinem eigenen Mund zu hören, warum Amelia und Maria Luisa sterben mußten? Aber war das die ganze Erklärung? Ich entschied mich, zu Gloria ehrlich zu sein.
»Vor vierundzwanzig Stunden wollte ich ihn finden, um ihn zu töten. Am besten zweimal. Auge um Auge und so weiter. Ich hatte das Gefühl, wenn ich ihn erwürgen könnte, würde ich dem Gefängnis entkommen, in dem ich mich befand. Erlösung durch Rache, das fühlte sich gut an. Jetzt weiß ich nicht mehr so recht.
Jetzt glaube ich eigentlich, ich möchte ihm gern ein letztes Mal in die Augen sehen und ein persönliches Geständnis hören. Aber ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Vielleicht will ich ihm einfach ein paar auf die Nuß geben und dann gehen.«
»Zwei auf die Nuß«, sagte Gloria. »Eine von dir und eine von mir, aber du mußt ihn leben lassen.«
»Du willst ihn doch wohl nicht wieder zurückhaben!« stieß ich entgeistert aus.
Gloria trank Kaffee und legte die Beine übereinander, lehnte sich vor und sagte, als führten wir eine stinknormale Unterhaltung: »Nein, Peter. Das will ich nicht. Wir hatten alle unsere Liebschaften, Oscar, Karl Heinrich und ich. Aber wir waren wie kommunizierende Röhren. Phasenweise konnten wir nicht genug voneinander kriegen, und im Bett hat er sich nicht verstellt. Es gibt keinen Zweifel, daß er mich geliebt hat, und ich habe ihn geliebt. Aber auf eins kann der alte Kommunist nicht verzichten. Das ist das gute Leben. Und das, denke ich mir, werde ich ihm nehmen. Der Ritter des
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