Der Augenblick der Wahrheit
unvermittelt von den graugrünen Bergen abgelöst wurde. Ich saß stundenlang am Fenster und starrte hinaus und dachte an alles und nichts. Er sorgte dafür, daß ich wenigstens etwas aß, und ließ mich sonst in Ruhe.
Einige Tage lang habe ich ihn auf einer seiner Expeditionen in die Umgebung begleitet, wo er die alten Schützengräben von der Belagerung Madrids in den Jahren 1937 und 1938 erforschte. Er war damals erst ein großer Junge gewesen, aber Kindersoldaten sind keine afrikanische Erfindung. In dem blutigen, haßerfüllten Kampf, da General Franco gegen die gesetzliche Regierung putschte, haben sie auf beiden Seiten gedient. Wir fanden alte Waffen und Fetzen verrosteten Stacheldrahts und zerschossene Helme und andere Überbleibsel aus der blutigen Bruderwunde der spanischen Geschichte. Alfonzo hielt alles fest und zeichnete sorgfältig Karten mit dem vermuteten Verlauf der Schützengräben, als die Faschisten versuchten, Madrid einzunehmen. Über uns schwebten große Passagiermaschinen auf ihrem Weg vom und zum Flughafen. Es waren klare Beispiele für den Fortschritt und für ein gewandeltes Spanien, das die große Ouvertüre zum Gemetzel des Zweiten Weltkriegs vergessen hatte.
Wir haben nicht sehr viel gesprochen. Wir setzten uns auf eine Böschung, wo wir Brot teilten und Käse und Schinken von einem der kleinen Bauern der Gegend aßen. Don Alfonzo trank Wein. Ich konnte mich nicht überwinden, ihn Juan oder schlicht Alfonzo zu nennen. Er war ein altmodischer Mann, und es war natürlich, ihn mit dem achtungsvollen Don anzureden. Ich trank eine Cola. Meinem Versprechen Amelia gegenüber fühlte ich mich weiterhin verpflichtet. Meist saßen wir schweigend da, bis ich ihm sagte, daß ich in der flimmernden Hitze der Hochebene die Zikaden hören konnte. Es war ihm lieb, wenn ich das sagte.
Es war eins der Dinge, nach denen er sich sehnte. Das Zirpen der Zikaden zu hören, die monotone Melodie des Sommers.
Über unseren Verlust sprachen wir nie. Es gab nichts zu sagen.
Es kam einfach nicht in Frage. Don Alfonzo würde etwas sagen wie: »Solange es noch ein Glas guten Wein gibt, frischgebackenes Brot und ein schönes Stück Käse, ist alles halb so schlimm.« Als zitierte er Graham Greene, den er sicher nie gelesen hatte, aber das habe ich ihm nicht gesagt. Und ich würde irgend etwas in der Art sagen wie: »Sie singen aber heute laut, die Zikaden.« Er würde die Hand hinter das Ohr legen und versuchen zu lauschen. Würde mit der Hand einen Trichter formen, um wenigstens einmal den hohen, zitternden Laut zu vernehmen. Er sah allmählich sehr alt aus, mit einer pergamentenen Haut über den schmalen Wangenknochen.
Eigentlich älter als zweiundsiebzig. Er hatte sonst immer zehn Jahre jünger ausgesehen. Nur den kleinen akkuraten Oberlippenbart hielt er schnurgerade, und jeden Morgen zog er die saubere Wäsche an, die ihm seine Haushälterin bereitgelegt hatte. Sie war eine sechzigjährige Witwe aus dem Nachbardorf, die täglich kam und saubermachte, wusch, einkaufte und seine Mahlzeiten vorbereitete. Die Fülle verschwand aus seinem Körper. Er welkte jeden Tag ein wenig dahin, als würde er langsam vor meinen Augen wegretuschiert. Ich hatte den Eindruck, er genoß meine stumme Gesellschaft, in der unsere Sätze ohne Zusammenhang in der sengenden Mittagshitze hingen. Er konnte auf ein Storchennest zeigen und sagen: »Das war im Krieg auch schon da. Ich kann mich gut dran erinnern.
Ich habe da drüben gelegen und auf die Stadt geschossen. Die Republikaner hatten rote Halstücher. Es war dumm von ihnen, aber sie waren ja Anarchisten, es war eine Art Uniform für sie.
Obwohl sie eigentlich Gegner von Uniformen und Dienstgraden waren. Deshalb konnten die Kommunisten sie nicht ausstehen.
Sie hatten einander gefressen. Es war leicht, sie mit diesen Halstüchern zu treffen. Aber gehaßt habe ich sie nicht.«
Es war ein Gespräch ohne Sinn und Inhalt. Alles, was wir unternahmen, diente nur dem Zweck, die Zeit herumzubringen.
Die langsam tickenden Sekunden unseres Lebens verstreichen zu lassen, ohne den Verstand zu verlieren.
Aus dem gleichen Grund nahm ich auch die Ameisen auf.
Ansonsten fotografierte ich nicht mehr, jedenfalls keine Menschen. Aber ich kaufte eine neue Ausrüstung und fotografierte den großen Ameisenhaufen am äußersten Ende des gepflegten Gartens. Der Garten meines Schwiegervaters maß fast viertausend Quadratmeter und lag an einem leichten Hang mit Zypressen und großen roten Geranien
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