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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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und den beiden Treibhäusern, in denen er an seinen Blumen und Tomaten herumwerkelte. Es waren große rotschwarze Ameisen, die von morgens bis abends arbeiteten und kämpften. Ich machte Totalen, Halbtotalen und scharfe Nahaufnahmen der furchteinflößenden Biester. Ich studierte sie genau und war von ihrem Organisationstalent beeindruckt. Ihre Wege von und zu ihrem Bau erinnerten mich an die Leistungen römischer Legionäre. Die Arbeitsameisen waren nämlich wie Legionäre, wenn sie im Marschtempo Abfälle wegschafften und ihrer Königin Nahrung und Baumaterial brachten. Während ich sie stundenlang beobachtete, blieb die Zeit stehen und verging trotzdem. Es war die gleiche Empfindung der Zeitlosigkeit wie in meiner Kindheit, als ich auf der Toilette saß und die Myriaden von Mustern und Vierecken des Terrazzobodens betrachtete. Ich sah in ihm eine Stadt, bevölkert von winzigen Wesen, die mir von ihrem Leben und ihren Eroberungszügen berichteten. Der Steinboden war kein Steinboden mehr, sondern eine Welt lebender Wesen, die ich steuerte und nicht steuerte, weil meine Phantasie alle gewünschten Wege beschreiten durfte.
    Die gleichen Tagträume kamen in wilder Mischung, wenn ich nachts im Badezimmer die Negative entwickelte. Ich fing gewissermaßen von vorn an. Ich hatte meine Leica und meine Geräte, die ich Nacht für Nacht in einem Badezimmer aufbaute.
    Beinahe war ich wieder wie ein Kind. Ich knipste Bilder, die für nichts zu gebrauchen waren. Die keinen anderen Zweck hatten, als die Zeit totzuschlagen.
    Um hin und wieder einmal nach Madrid zu kommen, hatte ich mir ein Motorrad angeschafft. In Madrid setzte ich mich dann in ein Café und fuhr danach mit Millionen anderer Leute wieder aus der Stadt hinaus. Es war eine starke Honda 750, mit der ich mich unverantwortlich zwischen den im Stau steckenden Autos hindurchschlängelte. Oscar hatte etwas von einem unterdrückten Todeswunsch gemurmelt, und vielleicht hatte er recht. Aber womöglich war er gar nicht so unterdrückt. Ich fuhr schnell und ziemlich dreist, aber ich genoß auch das Gefühl des Windes im Haar, wenn ich die Vorstädte hinter mir gelassen hatte und durch die Kurven der kleinen Nebenstraßen fegte, die zum Haus meines Schwiegervaters hinaufführten.
     
    Als ich von einem meiner Madrider Ausflüge zurückkam, hantierte er wie gewöhnlich im Garten herum. Ich sah seinen hellen Strohhut, während er Tomatentriebe abzwickte und Pflanzen goß. Ich holte mir eine Cola und ein Glas kalten Rosé für ihn und setzte mich auf die Terrasse. Es war sehr warm und sehr still. In der Ferne brummte ein Flugzeug, das sich schwerfällig auf die Seite legte und zum Landeanflug ansetzte.
    Die Zikaden sangen, und auf dem Feld des Nachbarn sah ich einen Esel. Mit Ausnahme des Flughafens schien nur vierzig Kilometer außerhalb Madrids die Zeit stehengeblieben zu sein.
    Es war etwas ewig Spanisches an diesem Abend – die flimmernde Hitze, die allmählich von dem klaren, glänzenden Himmelsgewölbe aufgesogen wurde, und die kleinen Lichter, die vor den Bergmassiven am Horizont in der Dämmerung aufflammten.
    Er setzte sich mit einem formellen buenas tardes, nahm den Hut ab und wischte sich über die braune Stirn. Wir saßen ein wenig in unserem üblichen Schweigen, das aber nie peinlich wurde. Dann erzählte ich ihm von meinem Gespräch mit Rodriques. Er hörte zu, ohne zu unterbrechen. Oft vergaß ich, daß der alte stumme Mann zu den durchtriebenen Leuten des Franco-Regimes gehört und viele wichtige Kontakte in ganz Europa gehabt hatte. Möglich, daß Francos Spanien von Westeuropa offiziell geächtet und isoliert gewesen war, aber Franco war in erster Linie Antikommunist und gewährte amerikanischen Flugbasen Unterkunft, obwohl das Land damals nicht einmal NATO-Mitglied war. Francos Spanien war der Freund der USA, weil es der Feind des Feindes war, und die CIA arbeitete eng mit dem spanischen Geheimdienst zusammen.
    Als ich geendet hatte, saß er eine Weile schweigend da und begann dann auf seine gewöhnliche langsame Art zu reden. Die Sätze kamen nach und nach, unterbrochen von Pausen. Er war ein Mann, der alle Zeit der Welt hatte.
     
    »Ja. Pedro. Das klingt wahrscheinlich. Aber mein Leben hat mich gelehrt, daß die Nachrichtenarbeit wie ein Eisberg aussieht. Der größte Teil ist unter der Oberfläche verborgen.
    Informationen sind Valuta mit unsicherem Kurs. Sie steigen und fallen, und Worte enthalten Lüge und Wahrheit. Der Mensch will die Bestätigung, daß

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