Der Augenblick des Magiers
regieren natürlich.«
»Aber ihr habt dann doch schon alles, was ihr braucht.«
»Dann holen wir uns eben noch mehr.«
»Mehr was? Wieviel Nahrung kannst du zu dir nehmen? Wieviel Holz brauchst du noch, um ein Haus oder ein traditionelles Nest zu bauen?«
»Ich... ich weiß es nicht.« Der Falke schüttelte den Kopf und rieb sich mit einer biegsamen roten Flügelspitze die Augen.
»Deine Fragen schmerzen mein Denken.«
»Ich weiß, was ihr tun werdet, und ich werde es dir auch sagen.« Jon-Tom warf schnell einen Blick nach draußen.
Gyrnaught war nicht da. Vermutlich war er gerade irgendwo beim Truppendrill. »Langweilen werdet ihr euch nämlich, genau das. Ihr werdet rumsitzen und nichts tun, bis euch die Federn ausfallen und ihr nicht mehr fliegen könnt. Dann werdet ihr aussehen wie ein Haufen Hühner.«
»Sei bloß vorsichtig«, warnte Hensor ihn. »Einige meiner besten Freunde sind Hühner.«
»Na ja, du weißt schon, was ich meine. Faulheit wird zur Flugunfähigkeit führen.«
Hensor gewann seine Zuversicht zurück. »Nein, wird sie nicht. Gyrnaughts Drill wird uns stark und kräftig halten.«
»Stark und kräftig wozu? Nein, wenn ihr erst einmal alles erobert habt, werdet ihr euch langweilen und verweichlichen, weil ihr nichts mehr habt, für das ihr kämpfen müßtet, während die besiegten Völker sich um eure Bedürfnisse kümmern. Raubvögel sind geborene Jäger. Wenn ihr nicht mehr jagen müßt, werdet ihr fett und flugunfähig werden.«
»Du verwirrst mich.«
»Oh, das wollte ich nicht«, versicherte Jon-Tom ihm sofort.
»Um Gottes willen, nein! Ich mache mir nur Sorgen, das ist alles. Jetzt seid ihr alle noch solche kraftvollen Flieger, da würde es mir in der Seele wehtun, mitansehen zu müssen, wie ihr herunterkommt.«
»Was schlägst du vor?«
Jon-Tom neigte sich zu ihm herüber und flüsterte in verschwörerischem Ton: »Einer von euch wird niemals fett und faul werden, weil er nämlich viel zusehr damit beschäftigt ist, dafür zu sorgen, daß ihr anderen alle nicht ausschert und bei der Stange bleibt. Und wer das nicht tut, der landet natürlich höchstwahrscheinlich auf seinem Eßtisch.«
Hensor sah ihn schockiert an. »Nein, das würde nie passieren! So etwas würde Gyrnaught nie tun!«
Achselzuckend erwiderte Jon-Tom: »Damit würde er nur seiner eigenen Philosophie folgen. Die Starken herrschen, die Schwachen gehen unter.« Er hoffte, daß er auf Hensor wenigstens etwas Eindruck machte, denn das verzwickte Um- die-Ecke-Denken ließ ihn langsam selbst leicht schwindeln. »Es gibt allerdings eine Lösung für dieses Problem.«
»Welche?« fragte Hensor wißbegierig.
»Ganz einfach. Jeder muß gleich sein. Kein Mitglied der Herrenrasse darf weniger Herrscher sein als sein Nachbar. Das ist doch auch nur fair, nicht wahr? Auf diese Weise wird sich jeder in optimaler Kampfkondition halten müssen.«
Hensors Gesichtsausdruck verriet, daß ihm dieses Konzept von einem Stamm aus lauter Häuptlingen ohne Indianer völlig neu war. »Das würde Gyrnaught nicht gefallen«, erwiderte er schleppend.
»Warum denn nicht? Wenn ihr doch alle Mitglieder der Herrenrasse seid, warum solltet ihr dann nicht auch alle gleichrangig über die niederen Rassen herrschen? Er wäre ja immer noch der oberste Führer, aber ihr wärt alle gemeinsam ebenfalls Führer. Ist es nicht schon immer so gewesen unter Raubvögeln?«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Hensor ihm erregt bei. »Wir könnten alle Führer sein. Wir sind ja auch alle Führer.« Er drehte sich um und breitete seine leuchtendroten Schwingen aus.
»Das muß ich gleich den anderen erzählen!«
Jon-Tom zog sich ins Innerste seiner Nische zurück und machte sich daran, seine wenigen Habseligkeiten zu ordnen. Nach nicht allzu langer Zeit wurde er von einem immer lauter werdenden Lärm abgelenkt, der von draußen herein hallte. Lächelnd spähte er aus seiner Höhle hinaus.
Unter den Soldaten der Herrenrasse war etwas im Gange, das heftiger zu sein schien als ein hitziges Streitgespräch, und zwar hoch oben im Schacht, mitten in der Luft. Tatsächlich schien sich die Mehrheit daran zu beteiligen. In der Mitte der diskutierenden Gruppe war eine große graue Gestalt, die ihre Flügelspitzen mit Bewegungen hob und senkte, die sehr nach Wut aussahen.
Bald darauf begann es Federn zu regnen. Sie waren von verschiedenster Größe und Farbe, und Jon-Tom amüsierte sich damit, einige davon einzusammeln und sie in das Futter seines Umhangs zu stopfen.
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