Der Augenblick des Magiers
Vielleicht gab es auch in Wirklichkeit gar keinen Baum, sondern nur die einzelne hohe Liane.
»Wir wollen euch nicht erschrecken. Wir üben uns lediglich in unserer Kunst. Wir haben nämlich nur selten Publikum.« Jon- Tom drehte sich um und blickte nach hinten. Dort waren drei weitere Mudges verschwunden. Sie waren von einem Baumpaar und einem einzelnen riesigen Schmetterling ersetzt worden. Der flatterte zwar, bewegte sich aber nicht von der Stelle.
»Das ist wirklich wahr«, erklärte der Schmetterling. »Wir haben immer nur ganz selten und vereinzelt Publikum.«
»Eure Kunst?« wiederholte Jon-Tom murmelnd.
»Wir sind Mimen, Imitatoren, Mimiker«, erklärte eine der Lianen. »Angefangen hat es als Schutz gegen die Pflanzenfresser. Unsere Bäume leben tatsächlich unter der Bodenoberfläche.« Also blickten sie tatsächlich auf Schlingpflanzen, dachte Jon-Tom. »Wir schützen unsere eingegrabenen Bäume, indem wir die Dinge imitieren, vor denen Pflanzenfresser sich fürchten.«
»Es funktioniert gut«, sagte eine Riesenraupe. »Es fällt schwer, etwas zu probieren und zu fressen, das so aussieht wie man selbst. Ich selbst habe, da ich eher auf Photosynthese stehe, nie den motilen Verdauungszyklus verstehen können.«
»Egal«, sagte ein Paar Alpträume, die wie eine Erfindung von Dali aussahen, »jedenfalls wird es ziemlich langweilig, nur rumzuhängen und darauf zu warten, daß irgendwas versucht, den eigenen Baum auszugraben. Also versuchen wir in Form zu bleiben, indem wir verschiedene Verdoppelungen üben. Das wird aber auch langweilig, es sei denn, wir bekommen ein neues Publikum mit einer anderen Sicht der Dinge.« Die Alpträume verschwanden und wurden durch zwanzig applaudierende Händepaare ersetzt.
»Na, was ist«, fragte etwas, das wie ein kleiner Dinosaurier aussah, »was sollen wir euch vormimen? Wir sind die Besten, hier auf dieser Seite.«
»Nicht ganz die Besten«, widersprach ein Quartett kopfunter hängender Vögel, die sich dem Angeber gegenüber befanden.
»Das hier könnt ihr doch nie!«
»Dünger!« fauchte die andere Liane und wurde sofort zu einer erstaunlich bunten Schar hängender Flügelwesen.
»Die Federn hängen verkehrt rum!«
»Hängen sie nicht!« Die umgedrehten Vögel starrten ausnahmslos Jon-Tom an. »Sag uns, Mensch, sehen sie für dich richtig aus oder nicht?«
Jon-Tom war dabei, wieder sein Gepäck zu packen. »Ist schwer für mich zu sagen. Ist nicht eben mein Fachgebiet. Schätze, für Federn sind sie ganz in Ordnung.« Er schritt auf das Ufer zu, wo sie am Abend zuvor ihr Floß gelassen hatten. Mudge ging dicht hinter ihm.
»Oh, dazu braucht man kein Experte zu sein.« Drei der Lianen verschlangen sich ineinander, um ihnen den Weg zu versperren. »Ihr braucht nur eine neue Perspektive einzubringen, ein neues Publikum zu sein. Ihr seid das beste, das wir seit langer Zeit gehabt haben. Seit viel zu langer Zeit. Wir können euch jetzt nicht einfach so gehen lassen. Wir haben doch sooo viele Imitationen auf Lager! Wir brauchen jemanden, der uns sein Urteil dazu mitteilt.«
Jon-Tom musterte die verschlungenen Lianen und machte einen weiteren vorsichtigen Schritt nach vorn. Die Schlingpflanzen ließen Bündel von zehn Zentimeter langen Giftdornen hervorwachsen.
»Was meinst du, Mudge?«
»Ich weiß nicht, Kumpel. War schon ein paar Tage lang nicht mehr als Jurymitglied tätig.«
»Es dauert nicht lange«, versicherten ihnen einige andere Lianen.
»Unser Repertoire ist schließlich nicht unbegrenzt.«
»Ein, zwei Jahre, dann sind wir fertig«, meinten vier Riesenratten.
Die schnellen Verwandlungen verwirrten Jon-Tom leicht, während sein Hirn versuchte, mit seinen Augen Schritt zu halten.
»Wir würden euch liebend gerne zusehen«, sagte er schleppend, »aber wir haben wichtige Geschäfte zu erledigen, so daß ich fürchte, daß wir euch keine ein, zwei Jahre opfern können.«
»Ach, kommt schon!« sagten die beiden Versionen seiner selbst und setzten ihre Rammholzstäbe ein, um ihn in die Kreismitte zurückzustoßen. »Es wird euch gefallen. Nun seid keine Spielverderber. Wenn wir könnten, würden wir uns ja ein Publikum erjagen, aber das geht nicht. Wir hängen an unseren Bäumen fest.«
»Ja, habt ihr denn überhaupt kein Mitgefühl?« fragte etwas, dem Jon-Tom nicht einmal einen Namen zu geben imstande war.
»Natürlich hege ich Mitgefühl«, erwiderte er hastig. »Wir haben lediglich keine Zeit übrig, das ist alles.« Er sagte es in höflichem Ton,
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