Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
natürlich auch auf uns zurück, ich habe eine richtige Wut im Bauch! Und da stehe ich nicht alleine, aber es sind hauptsächlich die Älteren, die, so wie ich, vor der Pensionierung stehen. Die noch die alte BA-Haltung vertreten, also die Haltung aus den 70er Jahren, wo sich die BA wirklich noch gekümmert hat um die Arbeitslosen, und auch in den Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit hatten die Vermittler diese – ich will mal sagen: solidarische Einstellung. Aber seit eine Reform nach der anderen durch die Behörde jagt, seit es immer mehr um die Verschönerung der Statistik geht, um betrügerische Manipulationen, siehe Jagoda, der als Präsident der Bundesanstalt für Arbeit zurücktreten mußte, wegen Fälschung der Vermittlungsstatistiken usf., weht bei uns ein ganz anderer Wind. Heute ist es so, daß wir ganz unmittelbar und offiziell zu Mittätern beim Sozialraub gemacht werden. Das Ganze wird als größte Arbeitsmarktreform Deutschlands angepriesen, von zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen war die Rede, fördern und fordern lautet die Devise. Wo gefördert wird in diesem Land, haben wir gesehen, als gleichzeitig mit Hartz IV von der rot-grünen Regierung die dritte Senkung des Spitzensteuersatzes beschlossen wurde. Unten jedenfalls wird ›gefordert‹.
Das Ganze ist zugleich auch eine Vereinigung von zwei Behörden, sozusagen, denn durch den Kompromiß sind die Kommunen mit ins Boot genommen worden. Das hat natürlich zu enormen zusätzlichen Kosten und Chaos geführt. Mitarbeiter aus den Sozialämtern und viele Mitarbeiter aus der Arbeitsagentur wurden für Hartz IV in die neu geschaffenen ARGEs (Arbeitsgemeinschaften zur Grundsicherung für Arbeitssuchende oder Arbeitsgemeinschaft SGB II) umgesetzt, dazu kamen noch mal 3000 Hilfskräfte aus den kurz vor der Pleite stehenden ehemaligen Betrieben, wie Telekom, Deutsche Bahn, Deutsche Bundespost, da gibt’s ja einen riesigen Beamtenpool, für den man bisher keine Verwendung hatte, nach der Privatisierung. Und so kam es, daß ein beamteter Starkstromtechniker aus Wuppertal plötzlich in Berlin als Sachbearbeiter auftauchte, nach einer Kurzschulung. In den ARGEs besteht das Riesenproblem vor allem darin, zwei Arbeitskulturen aus zwei unterschiedlichen Behörden zusammenzuführen. Das hat es ja noch nie gegeben in der Geschichte der Bunderepublik, daß kommunale- und Bundesbehörden zusammengeführt werden. Und wie es bei Beamten ist, einer kämpft gegen den anderen, die eine Arbeitskultur kämpft gegen die andere, angefangen von der Frage, wie man eine Akte führt, und wer hat das Sagen. In den Händen der BA früher war das Ganze ja eine glasklare, professionelle Angelegenheit. Damit ist es vorbei.
Die Zeit vom Juni bis Dezember 2004 war der reinste Horror, die Bearbeitung der ersten Anträge auf ALG II, also auf das Arbeitslosengeld II. Es mußte in großer Geschwindigkeit gearbeitet werden, Anträge durchsehen, sind alle Unterlagen vorhanden – das ist ja ein 16seitiger Antrag, zu dem vielfältige Unterlagen beizubringen sind. Und die Auflage aus Berlin: Am 3. Januar müssen überall die Gelder auf den Konten sein, damit kein politisches Desaster entsteht! Unter diesem Zeitdruck ist unheimlich schlampig gearbeitet worden, es gab 15 Prozent und mehr Ablehnungen. Innerhalb der BA gab es eine heftige Leistungskontrolle, täglich wurde Statistik geführt über die Antragsbearbeitung. Es wurden Sonderschichten eingeführt, auch Wochenendarbeit, und es gab diese irrsinnigen Probleme mit der Software, die ja bis heute nicht läuft. Also, daß der Laden nicht vollkommen zusammenbrach, ist nur den Mitarbeitern zu verdanken. Und ein kleiner Teil ist hochmotiviert, der denkt trotz aller Überlastung an die Leute draußen. Ein Hardliner in der Behörde, der kann diesen Übergangszustand nutzen für Härte und Strenge und zum Vorführen der Kunden – wir nennen die Arbeitslosen nämlich seither Kunden. Die wohlmeinenden unter den Kollegen können, in aller Stille, die gesetzlichen Vorschriften im Sinne des Kunden auslegen. Die Machtbefugnis ist erschreckend groß. Also, der Punkt ist, und das muß man einfach sagen, der Charakter eines Mitarbeiters entscheidet unter Umständen über Leben und Tod. Er kann einen Suizid auslösen. Er kann jemanden depressiv machen oder einen potentiellen Gewalttäter durch Demütigungen zu einer tickenden Zeitbombe machen. Er hat die Macht, Schicksale zu erzeugen. Und der andere Punkt ist der Druck, unter dem diese ganze
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