Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Verhalten und unverschämtem Anspruchsdenken ein Ende macht. Wer z. B. die Eingliederungsvereinbarung verweigert, dem wird sie per Verwaltungsakt festgesetzt, und es kommt zu einer 30-prozentigen Leistungskürzung. Bis 100 Prozent bei weiteren Weigerungen. Jugendlichen wird rigoros alles gestrichen. Kosten für Unterkunft und eventuellen Mehrbedarf (bei Diabetes usw.) bleiben erst mal unberührt, schon um Obdachlosigkeit zu verhindern. Jede Strafe gilt für drei Monate. Es können Sachleistungen, Lebensmittelscheine beantragt werden, aber das wird dem Kunden nicht unter die Nase gehalten, wer’s nicht weiß, muß verzichten. Also es gibt eigentlich keinen triftigen Grund, eine Arbeit zu verweigern, außer, Sie sind z. B. physisch oder psychisch krank, sind also nicht diese Mindestzeit von drei Stunden täglich erwerbsfähig. Dann wird das erst mal überprüft, die Behörde hat einen eigenen medizinischen und psychologischen Dienst, da haben Sie sich vorzustellen zur Untersuchung. Und egal, was an Gutachten von Hausärzten usw. existiert, was an Befunden vorliegt, Sie werden von diesem medizinischen Dienst überprüft und begutachtet. Befindet man Sie als erwerbsunfähig, sind Sie ein Fall fürs Sozialamt, das gibt es für die Nichterwerbsfähigen ja nach wie vor; und für ältere und alte Frauen z. B., die ganz fürchterlich kleine Renten bekommen, die alle bekommen ›Sozialgeld‹, so heißt es jetzt.
Ich möchte noch hervorheben, daß der typische ALG II- Empfänger, der EHB, der erwerbsunfähige Hilfsbedürftige, längst nicht mehr der stark tätowierte Kunde ist, der mit der Bierflasche in der Warteschlange steht, nein, das ist die Krankenschwester, die Kindergärtnerin, die Verkäuferin, das ist der Industriekaufmann, der kleine Selbstständige. Denn es trifft vermehrt auch den Mittelstand, und zunehmend kommen auch Führungskräfte und Akademiker, die alle dem gleichen Ritual unterworfen werden. Und diese Gruppe ist natürlich von Hartz IV besonders getroffen, denn das gehörte bisher eher nicht so zu den Lebenserfahrungen in diesem sozialen Milieu. Also stellen Sie sich eine Führungskraft vor, die durch eine Übernahme oder eine Fusion plötzlich ausgebootet wurde, und weil er schon zu alt war auch keinen Posten mehr gefunden hat. Also die Tür geht auf und da kommt dieser typische erfolgreiche Businessman, wie man ihn von Bildern kennt, der kommt herein, Anfang 50, seit eineinhalb Jahren arbeitslos, jemand, der niemals mit der Bahn zur Arbeit gefahren ist – aber Sie können sich ebensogut einen Journalisten, einen Arzt oder Juristen denken –, und der Mann hat natürlich ein entsprechendes Auto, die entsprechende Wohnung, war vielleicht Kunstliebhaber oder Bibliophiler, hat kleine Schätze, die entsprechende Wohnung, den entsprechenden Lebensstandard, zwei Kinder auf der Uni, geschieden. Und dieser Mann muß nun einen Antrag auf 345 Euro im Monat stellen und alles offenlegen, alles vorlegen! Er weiß, seit dem 1. Mai gibt es kein Bankgeheimnis mehr. Er hat eine 150 m2 große Luxuswohnung, zur Miete. Er hat Zeitungs- und Buchabos, er geht aus, ins Theater, in die Oper usw., das alles konnte er als Empfänger von Arbeitslosengeld und auch bei der abgestuften Arbeitslosenhilfe zahlen, denn er bezog den Höchstsatz. Mit Hartz IV ist das vorbei. Nun sind all seine Bilder, seine wertvollen Gegenstände und Besitztümer ›in Geld meßbare Güter‹ geworden, die zu berücksichtigen sind bei der Anrechnung aufs Vermögen, die auf dem ›ortsüblichen Markt‹ veräußert werden müssen. ›Angemessenen‹ Hausrat kann er behalten, also Gegenstände, die zum Wohnen und zur Haushaltsführung ›nötig und üblich‹ sind. Unter 58 dürfen Sie ein frei verfügbares Vermögen von 200 Euro pro erreichtem Lebensjahr haben, was drüber geht, wird auf die Gesamtbedarfssumme angerechnet. Ein ›angemessenes‹ Auto darf man behalten (Wiederverkaufswert von höchstens 5000 Euro), Aktien, Fondsanlagen usw. müssen aufgelöst und verwertet werden, auch wenn Verluste entstehen. Also unser Mann wird zuerst sein Vermögen aufbrauchen müssen, wenn das auf null ist, dann würde sein Anspruch wieder aufleben. Das ist natürlich der Moment, wo den Leuten die Tränen in die Augen treten.
Ich will Ihnen die prekäre Lage eines ALG II-Empfängers mal ganz kurz vor Augen führen: Von den 345 Euro bleiben nach Abzug der Heißwasser- und Stromkosten, nach Abzug von Fahrtkosten, Bank- und Praxisgebühren,
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