Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Unterricht gehalten für vierzig Schüler und nachts in der leeren Schule geschlafen Es gab keinerlei elektrisches Licht und nichts. Von draußen hörte man bereits das Grollen von Kanonendonner näher kommen. Dann war es endlich so weit zu gehen. Ich fuhr mit dem Rad zu meiner Kollegin rüber in ihren Ort, und von da aus radelten wir zur Straße, die nach Westen geht, und da war alles verstopft. Militär und Wehrmacht in Privatautos, Stoßstange an Stoßstange. Wir nahmen lieber einen Feldweg. Es war kalt, Nebel, leichter Regen und stockdunkle Nacht. Rabenschwarz. Da wurde mir mulmig. Dann sah man, daß es brannte, ein roter Schein Richtung Rominten. Wir sind bis zur Kreisstadt Gerdauen gefahren und haben nach langem Warten einen Zug bekommen nach Westen. Mit vielen Unterbrechungen waren wir so vierzehn Tage unterwegs. Jedenfalls, die große Flucht über das Haff mußten wir nicht mitmachen, wie all die Bauern dort mit Pferd und Wagen, die Schreckliches erlebt haben. Ich kam gut in Dresden an, grade rechtzeitig zum Angriff. Meine Eltern wohnten aber weiter draußen, zum Glück. Bei uns sind nur die Scheiben zersplittert, und im Keller waren die Türen eingeklemmt. Na ja, und dann war der Krieg zu Ende. Und ich war nun in der DDR , und da war es so, daß Lehrer, die vor 1920 geboren waren, die galten automatisch als politisch belastet und hatten Berufsverbot. Meine Kollegin, die mit mir war, war Jahrgang 1920, sie hat im Januar Geburtstag, ich habe vierzehn Tage vor ihr Geburtstag, bin aber Jahrgang 1919, und fiel also unter die Regelung. Da war nichts zu machen. Und so kam ich zu den Moulagen«, sagt sie und lächelt.
4 Jetzt Richter des Medizinhistorischen Museums der Charité
5 Mittlerweile lagert alles wohl geordnet in Schränken und Regalen im Keller des DHM.
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PRODUKTION VON PARIAS
BEAMTIN ARBEITSAGENTUR
»Was für ein glücklicher Tag für alle Arbeitslosen«
Peter Hartz
Die Vorläufer der Arbeitsämter wurden, im Aufwind der Bismarckschen Sozialsetzgebung, bereits Ende des 19. Jh. von der ersten Frauenbewegung gegründet. Ziel war die Berufsförderung von Frauen und Hilfe für die Arbeitslosen. Staatliche Arbeitslosenpolitik realisierte sich erst 30 Jahre später:
1927 wurde die Reichsanstalt f. Arbeitsvermittlung u. Arbeitslosenversicherung gegründet, um das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusichern.
1933 Gleichschaltung d. Reichsanstalt, Abschaffung d. freien Berufswahl zugunsten d. »Lenkung der Arbeitskräfte« (Einführung v. Arbeitsdienst usw.).
1938 Einführung d. Arbeitspflicht. Nach Kriegsbeginn waren die Arbeitsämter auch i. d. überfallenen und besetzten Ländern für Rekrutierung, Organisation u. Verteilung der Zwangsarbeiter für die Kriegswirtschaft im Reich zuständig.
1952 Neugründung d. Bundesanstalt f. Arbeitsvermittlung u. Arbeitslosenversicherung.
1969 Mit d. Verabschiedung d. Arbeitsförderungsgesetzes zur Beschäftigungssicherung u. z. Förderung des Wirtschaftswachstums Umbenennung i. Bundesanstalt für Arbeit (mit neuem roten Logo »A«).
2004 Im Rahmen der Umsetzung d. »3. Gesetzes f. moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (Hartz IV) Umbenennung u. Umorganisierung d. Anstalt in eine Bundesagentur für Arbeit. Kürzung d. Leistungsdauer aus d. Sozialversicherung, Zusammenlegung v. Arbeitslosengeld u. Arbeitslosenhilfe zum ALG II (einer knapp bemessenen Fürsorgeleistung auf Sozialhilfeniveau) für alle Langzeitarbeitslosen, Abschaffung d. freien Berufswahl, Zumutbarkeit jeder Arbeit bis an die Grenze zur Sittenwidrigkeit, Ein-Euro-Arbeitspflicht, Anwendung repressiver Mittel mit Zwangscharakter. Härtester Sozialeinschnitt i. d. Nachkriegsgeschichte.
Von den 15 (bis auf eine Frau) männlichen Mitglieder der Hartz-Kommission, die dieses Gesetzeswerk erarbeitet haben, waren mehr als die Hälfte Wirtschaftsmanager. McKinsey 6 war auch dabei. Frau K. ist Beamtin, Anf. 60, und arbeitet in einer Arbeitsagentur in einem der alten Bundesländer. Sie möchte aus naheliegenden Gründen hier anonym bleiben.
Sie haben angedeutet, daß Sie zahllose schlechte Erfahrungen seit der Einführung von Hartz IV gemacht haben? Frau K. sagt heftig: »Nein, ich mache nicht zahllose, ich mache vor allem eine grundsätzliche, häßliche Erfahrung, und das ist die der Würdelosigkeit. Die ist quasi schon per Gesetz so angelegt, und zusätzlich wird sie dann noch durch schlecht qualifizierte Kollegen verschärft. Dem Arbeitslosen ist seine Würde aberkannt worden,
das schlägt
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