Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
verschärfenden Armutsrisiko. Die neu entdeckte und zugleich mit dem Stigma der Mangelhaftigkeit versehene »Unterschicht« wächst, und sie verschlingt auch Teile des entsetzten Mittelstandes, bis hoch zum Akademiker. Wer im sozialen Grabenkampf nicht vollends überrollt werden will, braucht in ausweglos scheinender Situationen unbedingt die Hilfe eines Rechtsanwaltes. Noch steht sie Mittellosen zu.
Regine Blasinski, seit fünfzehn Jahren Rechtsanwältin mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Sozialrecht, war so freundlich, uns einen halben Tag zu opfern und aus ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. Ihre Kanzlei ist in Wilmersdorf. Die große Altbauwohnung im Erdgeschoß teilt sie mit einem Kollegen. Sie sammelt Kunstwerke aus Blech und hat sich originelle Regal- und Tischkonstruktionen aus Baugerüststangen und Glasplatten machen lassen. Zwei Aktenberge lagern auf, zwei unter ihrem Arbeitstisch. Es herrscht eine sympathische Gelassenheit, die auf gehetzte Mandanten sicher wohltuend wirkt.
»Also grundsätzlich: Wenn sie jetzt mit einem Bescheid kommen, z. B. mit dem Bescheid, daß die Miete ›abgesenkt‹ werden soll, dann sage ich dem Mandanten – bei mir heißen sie ja Mandanten, und nicht Klienten oder Kunden –, Sie können selber Widerspruch einlegen, und ich kläre ihn natürlich darüber auf, ob das also Aussicht auf Erfolg hat oder nicht. Und ich kann mich dann entscheiden, ob ich das übernehme, das Mandat. Oder ob ich’s erst mal dabei belasse, daß ich sage: Legen Sie erst mal Widerspruch ein, und melden Sie sich erst dann wieder, wenn der Widerspruchsbescheid kommt. Grundsätzlich können Sie davon ausgehen, wer mittellos ist, wer Hartz-IV-Empfänger ist, der bekommt natürlich auch Prozeßkostenhilfe, so heißt das heute. Früher hieß das Armenrecht. Immer vorausgesetzt, daß Aussicht auf Erfolg besteht. Aber das muß eben geklärt werden. Es ist ja nicht so, daß der Anwalt irgendwieviel kostet. Die Leute müssen nur einen Beratungshilfeschein beantragen, und wer das nicht schafft, da macht das dann auch noch ausnahmsweise der Anwalt.
Ich erkläre das normalerweise ganz ausführlich. Also, Sie gehen zum zuständigen Amtsgericht – welches zuständig ist, sage ich Ihnen. Sie nehmen ihren Bescheid mit, müssen dort einen Bogen ausfüllen und bekommen danach den Berechtigungsschein. Mit dem kommen Sie dann hierher zu mir. Hier müssen Sie allerdings zehn Euro auf den Tisch legen, die entfallen als Eigenanteil, das ist im Beratungshilfegesetz so geregelt. Wenn nun aber einer die zehn Euro nicht hat, soll ich den dann wegschicken?! Die Beratungshilfe wird ja auf Staatskosten gewährt. Ich bekomme mein Honorar von der Landeshauptkasse, für eine Beratung dreißig Euro, plus Mehrwertsteuer. Wenn ich Widerspruch einlege, dann sind es 70 Euro, plus Auslagen, plus Mehrwertsteuer. Ja, und dann muß man sehen, was zu tun ist, z. B. gegen einen Widerspruchsbescheid eine Klage einreichen beim Sozialgericht – das muß ich innerhalb einer Frist von einem Monat machen. Oder es gibt auch ganz dringende Fälle, z. B. die Räumung steht an, weil Mietschulden aufgelaufen sind bei einer Familie mit Kindern. Da muß man sich dann per einstweiliger Anordnung ans Sozialgericht wenden usw. Also, ›wenn es um Rechtsfragen geht, ist immer Prozeßkostenhilfe zu visieren‹, so hat es neulich mal das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß ausgedrückt.«
Auf unsere Frage, wie die Mandanten eigentlich zu ihr finden, sagt sie: »Das ist verschieden, teilweise, weil sie ins Telefonbuch gucken oder ins Internet, auch durch Sozialarbeiter oder Mundpropaganda. Oder aber, weil sie beim Berliner Anwaltsverein anrufen, es gibt da eine Anwaltsauskunft. Und dann hat der Berliner Anwaltsverein ja mehrere Hartz-IV-Beratungen gemacht, da ist dann die Anwaltsliste auch drin. Und wenn das dann in meinem Bezirk ist, dann bin ich das, die zuständig ist. So funktioniert es. Eigentlich ganz einfach.« Wir möchten gerne erfahren, mit welchen Problemen man sich am häufigsten an sie wendet. »Also, das typische Problem – und das haben wir auch weiterhin – ist, daß der Mandant nicht versteht, wie so ein Bescheid aufgebaut ist. Also, der Betreffende hat z. B. früher 900 Euro gekriegt, weil er noch Anspruch auf einen befristeten Zuschlag hatte. So, das sind die Leute, die vorher Arbeitslosengeld I bezogen hatten, und das fiel dann weg, okay. Und dann sind das Fälle, wo man den Leuten einfach noch mal erklärt, wodurch ist das
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