Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
konnte. Und dann haben wir natürlich auch viele Verschärfungen drin. Und eine der größten Verschärfungen, nach meiner Meinung, ist folgende Problematik: Unter 25-Jährige dürfen nicht mehr von zu Hause ausziehen, sie werden mit in die ›Bedarfsgemeinschaft‹ einbezogen. Vorher war es so: Jemand der erwerbslos und über achtzehn war, der bildete eine eigene Bedarfsgemeinschaft, durfte sich eine Wohnung nehmen, bekam 345 Euro, plus anteiliger Miete. Jetzt muß er in der elterlichen Wohnung bleiben und bekommt nur noch 276 Euro. Wer unerlaubterweise auszieht, erhält zwar weiterhin die 276 Euro, er bekommt aber kein Geld für Unterkunft und Heizung. Das ist schon sehr problematisch. Also, neulich war ein Vater hier, ein Urberliner, arbeitet bei der BSR, und der hat sich aufgeregt! Sagte, das kann doch wohl nicht wahr sein, daß ich ›Unter 25-Jährige‹ miternähren muß – nicht, daß ich sie nicht liebe –, aber das sehe ich gar nicht ein, daß wir hier gebeutelt werden als kleine Leute! Ich kann da nur sagen, legen Sie Widerspruch ein, aber es wird keinen Sinn haben, denn die Job-Center sind verpflichtet, sich ans Gesetz zu halten. Das heißt, man muß das bis ganz nach oben bringen, bis die Frage gestellt wird, ob das nicht verfassungswidrig ist. Ich kann nur eins sagen, das gab es in der Sozialhilfe ja auch nicht, daß unter 25-Jährige mit in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern eingebunden sind. Und es kommt ja noch hinzu, daß das Einkommen der Eltern mit angerechnet wird, da muß man also Auskunft geben, alles offenlegen – da ist man dann erst mal baff!
Eine weitere Verschärfung ist die engere Auslegung der ›Bedarfsgemeinschaft‹. Die Job-Center oder andere zuständige Stellen können nun anhand bestimmter Anhaltspunkte automatisch vermuten, daß gemeinsam wohnende Leute in Wahrheit ›eheähnlich‹ zusammenleben. Das umfaßt auch die Vermutung bei gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Man geht davon aus, dass sie somit eine Bedarfsgemeinschaft bilden. Das betrifft natürlich nicht nur jüngere Leute. Ich hatte einen Fall, es kommt ein Herr zu mir, er ist bald 80, ein ehemaliger Künstler mit sehr kleiner Rente, die vom Amt für Grundsicherung aufgestockt wird. Er bekommt also 345 Euro zum Leben und hatte eine Miete von etwa 300 Euro. Nun wohnte er aber nicht allein, er wohnt mit einer Frau zusammen. Die Dame vom Grundsicherungsamt sagte: Sie leben doch in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft? Und er sagt, nein, ich schlafe mit der Frau nicht. Dann sagt natürlich die Sachbearbeiterin, daß es darauf gar nicht ankommt.
Ich hatte ihn schon ein bißchen vorgewarnt, sagte, rechnen Sie mit einem Hausbesuch, das wird sicher noch mal genau geprüft. Für mich war die Sache klar, die hatten früher mit zwei anderen in einer größeren WG-Wohnung gelebt, die zwei sind weggestorben, und die beiden Verbliebenen, die haben sich dann eine kleinere Wohnung gesucht und angemietet. Früher mußte das Amt beweisen, daß es eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ist. Heute gilt ja die Beweislastumkehr. Wer nicht beweisen kann, daß er alleinstehend ist, wird ganz klar zu einer ›Wirtschafts- und Einstandsgemeinschaft‹ erklärt. Die Frage ist natürlich: Wie kann ich beweisen, daß das keine eheähnliche Gemeinschaft ist? Der Bundessozialrichter Ulrich Wenner – das können Sie im Internet auch nachlesen – kritisiert das als ›verfassungsrechtproblematisch‹. Er sagt u. a.: ›Weil zwei Personen im Rechtssinne nicht beweisen können, daß sie einander nicht in einer eheähnlichen Partnerschaft verbunden sind, kann ihnen auch keine entsprechende Beweislast auferlegt werden.‹
Im Fall des alten Herrn hatte die Dame vom Grundsicherungsamt dann am Ende doch ein Einsehen, aber oft geht es anders aus.
Und jetzt hat man ja auch den ›Hausbesuch‹ insgesamt mit reingenommen. (Es gab eine Ausweitung der Außendienste zur umfangreichen Durchführung kontrollierender Hausbesuche. Der Betroffene darf eine Durchführung des Hausbesuches zwar verweigern, riskiert damit aber Leistungskürzung. Kontrolliert wird auch verschärft die werktägliche Erreichbarkeit als Leistungsvoraussetzung, was zum Teil durch Callcenter überprüft wird. Anm. G. G.) Das sind natürlich alles ›Maßnahmen gegen den Leistungsmißbrauch‹ – das Problem hatten wir ja verstärkt 2004 in den Medien, wo unentwegt behauptet wurde, das seien Sozialschmarotzer. Na gut, viele haben vielleicht gesagt, sie ziehen aus, dann
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