Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Berlin. Ich wollte nichts als weg vom Land, der Hunsrück war dann auch nicht mehr mein Ziel, nachdem ich gesehen hatte, daß es im Prinzip immer darauf hinausläuft, die geistig Behinderten so oder so abzusondern, statt sie mitten reinzunehmen ins soziale Leben. Also ging ich nach Berlin und habe dann erst mal übergangsweise im betreuten Einzelwohnen bei der Lebenshilfe e. V. gearbeitet, habe da ein Paar betreut, mit dem ich heute noch Kontakt habe. Dann kam die Wende, und nach der Wende war ich dann mit dabei bei der Besetzung der Mainzer Straße. Meine Freundin, meine damalige Liebesbeziehung, ist dann auch gleich dort eingezogen, und ich war die meiste Zeit eigentlich bei ihr. Da war ja die ganze Straße besetzt, zwölf Häuser, es gab ein ›Frauen- und Lesbenhaus‹, ein ›Tuntenhaus‹, Kneipe, alles. Das ging vom Frühjahr ’90 bis November ’90, dann kam die Räumung, angeordnet von der SPD. Das war einer der brutalsten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik, und das war übrigens auch das erste ungeheuer martialische Auftreten der Westpolizei in Ostberlin. Es war wirklich das erste Mal in meinem Leben, daß ich Todesangst empfunden habe. Es war ein totales Chaos, viele waren schon abgehauen aus dem Haus oder waren draußen festgenommen worden, und wir saßen drin, in einem Raum um einen Wasserbottich herum, wegen der Gasgranaten und haben der Dinge geharrt. Draußen war Krach, und dann sind sie plötzlich von oben übers Dach gekommen in ihren schwarzen Uniformen, mit Masken und Helm. Meine Freundin war noch bei mir und ganz viele, die wir nicht kannten, waren da, Unterstützer. Ganz Jungsche zum Teil. Wir wurden sofort zusammengeknüppelt, richtiggehend zu Boden geschlagen, dann haben sie weitergedroschen, auf alles, was sich noch bewegt oder gestöhnt hat. Meine Freundin war schon ohnmächtig, neben mir lag einer, dem hatten sie den Arm zertrümmert, der fiepte nur noch, der hatte Schmerzen ohne Ende, andere haben geblutet. Ich hatte nur Schläge abgekriegt. Dann haben sie uns rausgetrieben, Beine breit, Hände an die Wand, so standen wir ewig an einer Mauer, eine Frau hatte einen Milzriß, die wurde weggebracht, der mit dem zersplitterten Arm stand an der Wand. Und hinter uns sind die Bullen hin und her gegangen, und es kamen auch Bürger vorbei, aber da hat keiner gewagt, etwas zu uns zu sagen. Es war ganz furchtbar.
Wir hatten ja jetzt kein Haus mehr, die meisten waren ohne Wohnung, da haben wir uns dann umgeschaut. Übrigens, zu dieser Zeit war ich nie in der Schoko, weil die Schoko war überhaupt kein Anlaufpunkt für so eine politische Szene, wie unsere eine war. Die haben ja von Anfang an verhandelt mit dem Senat usw. Wir haben dann ein Haus in der Grünberger Straße, auch in Friedrichshain, gefunden und besetzt, um dort ein Frauen- und Lesbenhaus aufzubauen. Na ja, in so einem besetzten Haus mußt du ja eine Menge selber machen. Einmal mußten wir ins Vorderhaus, um einen der Elektrotechniker zu fragen, ob er uns hilft, denn wir kamen nicht weiter. Das hat mich irgendwann dermaßen geärgert, daß ich mich mal so umgeschaut habe nach Elektrikerkollektiven. Ich hab’ auch eins gefunden und dort erst mal ein Praktikum bei denen machen können, habe dann aber schnell gesehen, daß dieses Wissen überhaupt nicht ausreicht. Und nach einem dreiviertel Jahr bin ich dann zu ›Polaris-Elektrobau‹, das war ein gemischtes Kollektiv, und habe da meine Lehre begonnen.
In der Berufsschulklasse in Lichtenberg war ich die einzige Frau. Ich habe ein Jahr gebraucht, bevor ich mit denen in Kommunikation treten konnte, ich war ja in eine Domäne eingebrochen. Wir konnten uns aber generell nicht verständigen, auch nicht mein Lehrer und ich. Auf Fragen bekam ich keine Antwort, und zwar so lange nicht, bis ich perfekt das technische Vokabular draufhatte. Es hat keiner gefragt, meinst du das so oder so? Gar keine Reaktion. Merkwürdig war das. Es ist eben auch so, daß Jungs es einfach gewohnt sind, daß Frauen sich in sie total hineinversetzen und reindenken, aber sie selbst haben das nie geübt, Frauen gegenüber. Sie kennen das nicht. Später konnten sie dann mühelos mit mir diskutieren, über ein mathematisches oder physikalisches Problem. Ich hatte ja, bevor ich die Ausbildung angefangen habe, einen Mathekurs an der Fachhochschule für Elektrotechnik gemacht, um mich vorzubereiten. Mein Meister im Kollektiv, der Hans, der war sehr gut, er hat mich auch viel selbst machen lassen. Also,
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