Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Dann hat er diese Vorruhestandsregelung gekriegt, damals durch Lafontaine, bei der Abwicklung der Bergwerke. Heute sitzt er zu Hause mit Parkinson. Meine Mutter tapeziert und streicht alles selbst und ist stolz darauf. Und ich glaube, sie sind auch ein bißchen stolz auf mich, obwohl grade die Mama das damals gar nicht so gut fand, daß ich von der Schule abgegangen bin. Denn sie war es nämlich, die dafür gesorgt hat, daß wir Mädchen eine gute Ausbildung bekommen, während sie gar keine Ausbildung hatte. Mein Vater war eher der Meinung: Wieso, die heiraten ja doch … Aber sie haben ja noch meinen Chemie-Bruder, worauf sie sehr stolz sind, denn mit ihm haben sie einen Doktor in der Familie, zum ersten Mal. Ich wollte einfach nicht studieren, viele können das nicht verstehen, als wenn es kein Leben ohne Studium gäbe! Mein Schulabbruch war mein Glück, denn sonst hätte ich ja nie Hausmeisterin werden können!«
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KEIN STILLER ABTRAG
BESTATTERIN
Claudia Marschner, Bestatterin in Berlin. Einschulung 1972 in die Carl-Bolle-Grundschule, danach Fontane-Oberschule. 1980 Tod der Mutter. 1982 Beendigung der Schule u. Ausbildung zur Bauzeichnerin, Abschluß 1985. Ausbildung zur Bürokauffrau bis 1986. Arbeit als Logistikorganisatorin bei eine Kosmetikfirma bis 1988. 1988–1989 Immobilienmaklerin. 1990–1992 Arbeit in einem konventionellen Bestattungsunternehmen. 1992 Eröffnung eines eigenen Bestattungsgeschäfts, Deutschlands erstes »Buntes Bestattungs-Institut«. 2002 Veröffentlichung ihres Buches »Bunte Särge« (Ullstein Verlag). Claudia Marschner wurde 1966 in Berlin geboren, sie ist ledig und hat keine Kinder, ihr Vater war Rechtsanwalt, die Mutter war Hausfrau und später Verkäuferin.
Rund 800000 Menschen sterben jährlich in Deutschland. Allein in Berlin sind es 35 bis 40000. Jeder Zweite davon wird in einem anonymen Urnenbegräbnis beigesetzt. »Stiller Abtrag« heißt im Bestatterjargon eine Beisetzung ohne Feier. Das sang- und klanglose Verschwindenlassen der Toten ist an der Tagesordnung. Es ist die logische Fortsetzung ihres sozialen Todes, den Alte, Kranke und Überflüssige schon zu Lebzeiten erleiden müssen, dann, wenn sie noch mitten unter uns sind. Es gibt kein Erbarmen in unserer Hochzivilisation. Der Tod ist sozusagen aus dem Leben geschieden, jeder bewältigt seinen privaten Alltag mit gehöriger Todesverachtung. Verlust und Trauer kann sich niemand leisten, Schmerz und Todesangst sind medikamentierbar. Stirbt ein Angehöriger, so ist die Verwirrung groß und der Schock über die Kosten oft noch beklemmender als jedes andere Gefühl.
Seit 2004 die sogenannte Gesundheitsreform der rot-grünen Regierung in Kraft trat, ist das Sterbegeld aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen und aus dem Sozialgesetzbuch gestrichen. Seitdem herrscht eine ablehnende und störrische Haltung der städtischen Bevölkerung gegen Beerdigungskosten vor. Man möchte sein Geld nicht zum Fenster hinauswerfen für einen Toten, die Verzweiflung am Leben verschlingt schon so Unsummen. Viele Bestatter kommen dem entgegen, bieten kostengünstig schnelle und diskrete Beseitigung des Problems. Angehörige hingegen, die sich um ihre Toten umfangreich und individuell kümmern möchten, stoßen ernüchternd schnell an die engen Grenzen, die vorgegeben sind durch Hygienevorschriften, konfektionierte Bestattung nach DIN-Norm, nach Zeittakten, nach Friedhofsverordnungen. Deutschland hat innerhalb Europas das rigideste Friedhofs- und Bestattungsrecht. Viele der Verordnungen und Vorschriften stammen noch aus der Nazizeit und regeln den Umgang mit dem Leichnam und dem, was alles die Hygiene oder die Würde des Friedhofs stören könnte. Daß bundesweit die innerstädtischen Friedhöfe – die lange Zeit das wichtigste Memento mori waren – immer mehr verfallen und unwürdig verwahrlosen, wird aus Kostengründen hingenommen. Auf dem Friedhof stagniert ohnehin alles. Hauptsache scheint, daß das Milliardengrab Autobahn ein bequemes und zügiges Vorankommen der mobilen Gesellschaft garantiert.
Bei alldem herrscht aber weiterhin das Leitbild bürgerlicher Trauerkultur des 19. Jahrhunderts. Schamhaft läßt sich der geizige Bürger in der Urne entsorgen und weiß insgeheim, daß es eine Schande ist. Die Arbeiterschaft gründete in der Weimarer Republik aus Not »Arbeiter-Feuerbestattungsvereine«. Feuerbestattung fürs Proletariat war die Folge von Weltkrieg und Massenarbeitslosigkeit. Fürs heutige
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