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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Schweiz, aber das sind heutzutage auch nicht mehr so die Grenzen. Die Akzeptanz ist unheimlich hoch dafür, besonders in Deutschland. Man findet hier schwer tätowierte Busfahrer und auch Bankangestellte, Versicherungskaufleute, denen man das gar nicht ansieht im Berufsleben. In Spanien und Frankreich ist es nicht so angesagt. Zu uns kommen so die Achtzehn-, Neunzehn, Zwanzigjährigen, z. T. kommen sie sogar schon mit vierzehn, aber das lehne ich ab – auch unabhängig von der Gesetzeslage, die es mir verbietet. Die sind noch nicht ausgewachsen. Und Jungs, die tätowiere ich, auch wenn sie achtzehn sind, noch ungern, denn erst so mit 26, 28 kriegen sie ihre eigentliche Masse.
    Das ideale Alter ist eigentlich so um die dreißig. Viele, die kommen, sind 35, 36, 38. Die haben lange überlegt, haben sich umgeschaut und sagen, sie wollen jetzt was Richtiges. Die lassen sich dann gleich die ganze Seite machen. Aber ich habe auch schon Greise tätowiert, so Mitte siebzig. Das war schon schwierig, weil die Haut problematisch ist, das Bindegewebe ist einfach anders bei einem alten Menschen. Ganz junge Leute sind auch nicht einfach zu tätowieren, das ist of deshalb schwerer, weil das Bindegewebe so intakt, so fest ist. Und ganz mühsam wird es bei muskelbepackten Leuten. Es kommen eigentlich alle Altersgruppen, und das Interesse nimmt nicht ab, sondern zu. Das ist interessant. Die Leute, die heute 25 sind, die leben ja schon ihre ganze Jugend hindurch mit dem Anblick von Tätowierungen, mit dem Bewußtsein, man kann sich tätowieren lassen, es gibt die und die Motive. Die schauen natürlich auch ganz anders auf Bilder. Die untersuchen die Welt auf tätowierbare Motive.«
    Wir fragen, was der Grund sein könnte, wenn eine Gesellschaft wie unsere plötzlich anfängt, sich zu tätowieren. »Es gibt viele Gründe dafür, ja, mhm … Also wir haben ja dieses Paradox, einerseits werden wir dazu erzogen, Individuen zu sein, andererseits gehen wir auf in einer unglaublichen Massenkultur. Oder gehen auch darin unter. Um diesem Untergehen etwas entgegenzusetzen, um wirklich zu einem einzigartigen biographischen Wesen zu werden, lassen sich die Leute tätowieren. Daneben ist es natürlich Modeerscheinung, Gruppenzugehörigkeit usw., Bewußtsein des eigenen Körpers – die Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber ist anders als bei den Nichttätowierten.
    Früher hatte man andere Entwürfe, ja … Die Leute haben sich in den 70er und 80er Jahren noch politisch geäußert, waren engagiert, und darüber haben sie sich auch definiert. Und danach kam eine Phase der Orientierungslosigkeit. Und plötzlich kam ›Spaß‹, dieses ›Ich will Spaß!‹. Das Konsumieren wurde erst scherzhaft gefeiert, aber irgendwann wurde es ernst. Unsere Identität, unser ganzer Lebensinhalt heute ist KONSUM . Auch unser Körper ist ein Konsumartikel geworden. Und natürlich auch die Tätowierung. Junge Mode kann man nicht mit Untätowierten verkaufen. Die Tatoos sind sogar auf die Kleidung übergegangen, aufgedruckt auf T-Shirts, Taschen, Hosen. Grade die Tribals, die gibt’s auf dem Plattencover und überall. Die Firma Kahla aus Ostdeutschland hatte eine Tribal-Serie auf Tassen, die haben sogar gepiercte Kaffeebecher rausgebracht!
    Was nun meine Arbeit als Tätowiererin betrifft, so stemme ich mich dem natürlich entgegen. Ich arbeite z. B. nicht nach Katalog. Nie! Ich erstelle immer für jede einzelne Person einen eigenen, ganz individuellen Entwurf. Und damit bin ich schon ziemlich weit weg von der Kommerzialisierung und von einem Massenprodukt. Ich mache die verschiedensten Sachen. Und ich mache, wie gesagt, sehr viele Blumenmotive, schon aus Passion. Natürlich, wenn es irgendwo einen roten Stern einzuarbeiten gibt … Man muß ja wissen, wo man zu Hause ist. Ich würde gerne ab und zu auch mal deutlich politischere Motive tätowieren. Mich interessieren Sachen von Heartfield z. B. und die Graphik der sowjetischen Plakate oder auch gotische Pietas. Auch aus Protest gegen diese kapitalistische Zwangsverdummung. Am liebsten hätte ich selbst eine Handgranate in die Handinnenfläche tätowiert. Das käme diesem Bedürfnis nahe.
    Traditionelle Motive wie Tribals mache ich nie; oder ich bau sie total um, ich dynamisiere sie, schattiere sie, arbeite mit Auslassungen, da kommt dann halt mein künstlerischer Teil zum Vorschein. Ich persönlich arbeite ja direkt auf die Haut, nur bei ganz bestimmten Sachen, bei lebensechten Portraits, komplizierten

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