Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Feinstrukturen, spiegelsymmetrischen Ornamenten, da mache ich eine Blaupause. Um größere Flächen am Körper zu beherrschen und anzulegen, braucht man große Souveränität und viel Erfahrung und Können. Aber die Welt verändere ich natürlich damit nicht. Was ich verändere, ist das Bewußtsein des Individuums für sich selbst. Also die Leute, die bei mir rausgehen, die fühlen das … Es war Michelangelo, glaube ich, der gesagt hat, die Figur IST schon in diesem Stein drin. Ich hab’ sie nicht erschaffen, ich hab’ bloß alles weggekratzt, um sie sichtbar zu machen. Und so ähnlich mache ich das eigentlich auch.
Also ich betrachte mich schon auch als Künstlerin. Eine gute Tätowierung ist ein Kunstwerk! Das ist die Crux unseres Berufsstandes, daß wir keine Künstler sind vor dem Recht, denn das Recht sagt, der Körper kann kein Kunstwerk sein.« (Daß Tätowierungen aus sozialrechtlicher Sicht keine Kunstwerke sind, hat das Bundessozialgericht Ende März 2007 befunden, es entschied, daß Tätowierer den Kunsthandwerkern zuzuordnen sind und damit keinen Zugang haben zur Künstlersozialkasse. Anm. G. G.) »Und ich betrachte mich auch als Kulturarbeiterin, ich beschäftige mich nicht nur mit Malerei und Grafik, ich stelle auch ein Kulturgut her mit meiner Kunst.
Tätowieren ist natürlich auch ein Handwerk. Dieses Bild überhaupt zu produzieren, es subtil auszuarbeiten, die Farbverläufe so anzulegen, daß sie homogen und gleichmäßig wirken, das alles ist schwierig und mit viel langsamer Schwerarbeit verbunden. Es ist körperlich eine große Anstrengung. Beim Tätowieren habe ich meistens eine ganz furchtbare Körperhaltung. Also, ich sitze vor dem Menschen und muß ganz schön viel Druck auf ihn ausüben, sonst kann ich den Körper nicht dirigieren und auch die Haut nicht spannen. Der Kunde sitzt nach Möglichkeit. Ich arbeite nicht gern auf der Liege, das ist für mich eine Qual, weil ich ein Bandscheibenproblem habe. Manchmal aber bin ich so im Wahn, daß ich keine Pause machen will. Das muß ich mir abgewöhnen. So eine Sitzung, das sind vier Stunden, und wenn es kompliziert ist, kann man in der Zeit etwa die Größe einer Handfläche schaffen.«
Auf die Frage, was eine Arbeit in dieser Größe kostet, sagt sie: »Je nach Aufwand und Farbigkeit, sagen wir mal, 300 bis 800 Euro. Jedes Gemälde ist wesentlich teurer. Also vier Stunden konzentrierte Arbeit, das ist lang. Die Vibrationen gehen natürlich auch auf die Hände, die Maschine ist ja so ein Art Hammer. Ich muß das alles freihändig machen. Beim Schattieren, wenn ich mit der einen Hand die Haut spanne und mit der anderen die Maschine führe, dann kann ich mich so ein bißchen auf mir selber abstützen. Die Maschine hat einen so starken Ausschlag, daß die Vibrationen direkt in die Arme gehen und in die Gelenke.« (Die Nadeln dringen etwa 0,5 bis 1,5mm tief in die unter der Epidermis liegende Lederhaut ein. Tiefer dürfen sie nicht stechen. Diese Präzision verdankt sich der Tätowiermaschine. Die erste wurde 1891 unter dem Namen »Tattaugraph« patentiert. Anm. G. G.) »Und wie ich anfangs schon gesagt habe, wegen dieser ungeheuren Geschwindigkeit, mit der sich die Nadeln bewegen, tut es dem, der tätowiert wird, ja auch so weh. Die Schmerzen empfindet übrigens jeder ganz verschieden. Es gibt den brennenden Schmerz, aber auch den stechenden Schmerz.
Einmal hatte ich einen jungen Mann, der wollte unbedingt die Eichel tätowiert haben. Ich habe eine einfache schwarze Spirale vorgeschlagen – ich kann ja da nicht, was weiß ich, ein Marienportrait draufmachen. So eine Spirale, die das Geschlecht irgendwie magisch auflädt, ist doch sehr elegant, zeitlos. Und was die Schmerzen angeht, wenn der das so will, dann muß er sie aushalten. Es hat gut geklappt, er hat nicht piep und nicht papp gesagt. Das Niedliche war, als es grade fertig war, kriegte er eine Erektion. Er guckte seinen Schwanz völlig verliebt an, und sein Schwanz guckte ihn an. Ich hätte ein Gesicht drauf machen sollen!«
Und nun möchten wir noch hören, was sie denn ursprünglich mal werden wollte. »Also in der Kindheit, mit sechs Jahren schon, da wollte ich unbedingt Schriftstellerin werden, später dann Bildhauerin. Mein Vater war Schweißer, meine Mutter Näherin. Beide waren begabte Menschen. Meine Mutter hat alles selbst genäht für meine Brüder und mich, alle meine Kleider, und das hat mich natürlich modisch sehr geprägt. Mein Vater hat an sich nichts Kreatives
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