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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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ganz natürlich ineinander über. Das alles zu pflegen, statt sich der Dekoware von Bau- und Gartenmärkten zu bedienen, erfordert Geduld und Zeit. Die werden in der Regel aufgebracht von den Alten, mit denen man hier immer noch unter einem Dach lebt.
    Monika Tietke führt uns in die wohnlich umgebaute ehemalige Futterküche, wir nehmen um den Eßtisch herum Platz. Ein paar Stufen führen hinauf zu einem offenen Raum mit Bücherregalen. Aquarelle von Sommerblumen hängen an der Wand, die Zeit scheint ein wenig stehengeblieben.
    »Sie kommen ja grade richtig, wir haben hier einen traurigen Jahrestag, den 25. Jahrestag zum Ende der ›Freien Republik Wendland‹. Am 4. Juni 1980 wurde da mit dem größten Polizeieinsatz in der Nachkriegsgeschichte das gesamte Hüttendorf der AKW-Gegner niedergeknüppelt und dem Erdboden gleichgemacht. Die ›Freie Republik Wendland‹ war ja von uns errichtet worden, auf der Bohrstelle 1004. Das war eine Besetzung. Tausende waren dort. Es gab einen eigenen Paß, einen Radiosender, die verschiedensten Hütten, Küchen, Sauna, Theater, ein großes Freundschaftshaus, Wachtürme, Spielplätze für die Kinder. Es kamen Künstler und auch Politiker hin, es gab viele Diskussionen und auch Debatten zur Frage der Militanz. Die Mehrheit war für ausschließlich passiven Widerstand. Das war sehr lebendig und phantasievoll damals, und die Brutalität auf die das stieß, die war absolut erschreckend und deprimierend.
    Ich bin ja hier eine ›Zugereiste‹. Ich war zum ersten Mal 1978 hier mit einem Freund und war sofort in den Bann dieses Landkreises gezogen. Wir haben teilgenommen an dem ersten großen Sommercamp auf dem Schützenplatz; da kamen viele Auswärtige zusammen, die wollten den Widerstand hier unterstützen. Unter anderem habe ich damals Robert Jungk kennengelernt, den Zukunftsforscher, der ja schon in den 50er Jahren ein Atomkritiker war. Er hat für uns Vorträge gehalten, und ich war tief beeindruckt. Also, das hat mich damals – in anderen Kreisen hätte man gesagt: Das hat mich ›politisiert!‹ Und ich habe dann angefangen, mich mit der ganzen Thematik intensiv zu befassen. Und je mehr ich darüber wußte, desto weniger konnte ich verstehen, daß Politiker so blauäugig sein konnten und so unvernünftig. Ich hatte natürlich schon einige Erfahrungen, ich war ja ein Kind der 68er – in Hannover, da hatte es diese Demonstrationen gegen die Verkehrsbetriebe gegeben, gegen die Preiserhöhung, und die ›Rote-Punkt-Aktion‹ wurde ins Leben gerufen. ›Bürger nahmen Bürger mit‹, im Auto. Wer einen roten Punkt vorn auf der Autoscheibe kleben hatte, der nahm andere mit, das hat sich wahnsinnig lange dann noch gehalten und war in Berlin und der ganzen BRD in Gebrauch.
    Also, ich hatte das schon so ein bißchen in meinem Bewußtsein, das Aufbegehren. Und bin dann auch mit dabeigewesen, beim Bauerntreck nach Hannover, im März 1979. Das war ein enorm großer Zug von Traktoren, die sich überall angeschlossen haben und nach sechs Tagen in Hannover ankamen. Alle hatten Schilder und Transparente drauf, und in Hannover, da warteten schon 150000. Das war eine wahnsinnig große Kundgebung, und da waren eben viele Leute, auch alte Bürger, die man sonst nie auf der Straße gesehen hat. Es war so eine wunderbare Stimmung, alles war so ermutigend auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite war ja am 28. März der Reaktorunfall in Amerika, in Harrisburg, und das hat die Diskussionen natürlich sehr angeheizt.
    1980 bin ich dann ganz hierhergezogen in den Landkreis, hab’ dann halt auch in den ganzen Widerstandsgeschichten meinen Mann kennengelernt. Er kommt hier von dem Hof, der wird schon in der siebten Generation von der Familie Tietke bewirtschaftet. Mein Mann ist natürlich in der ›Bäuerlichen Notgemeinschaft‹, ich bin auch gleich am Anfang mit dazugekommen. Gegründet wurde die, glaube ich, 1977. Erst mal hatte die Notgemeinschaft das Ziel, die WAA zu verhindern. Die Bauern haben dann aber sehr schnell begriffen, daß es um eine noch sehr viel größere, prinzipiellere Gefahr geht, und daß es technisch nicht möglich ist, den strahlenden Müll irgendwo sicher endzulagern.
    Damals haben viele Bauern hier unterschrieben; manche wollen davon heute nichts mehr wissen, aber viele sind sich treu geblieben. Damals war das alles ganz ungewöhnlich, außerhalb des Landvolkes gab es nichts. Keine Vertretung politischer Art. Man war in der Partei, und da waren damals so

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