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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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vom ›Kunden‹, wie es ja heute heißt – gegengezeichnet. Übrigens kommen bei uns relativ wenig Beschwerden über die Sozialstationen an, was öfter mal moniert wird, ist, daß sie nicht korrekt abrechnen, daß sie von den Alten da ihr Kürzel auf dem Blatt haben wollen, für Dinge, die teilweise gar nicht erbracht worden sind. Wichtig ist aber, daß durch die Arbeit der Sozialdienste heute viele Menschen zu Hause in ihrer eigenen Wohnung bleiben können, bis zuletzt, oft bis zum Tod.
    Aber das ist eben nur ein kleiner Teil, die überwiegende Mehrheit wird zu Hause von den Angehörigen oder im Heim gepflegt, und von dort erreichen uns auch die meisten Anrufe von verzweifelten, überforderten Frauen. Und da sagt dann eben eine Tochter: ›Ich habe solche Aggressionen gegen meine Mutter. Ich gehe immer ins Badezimmer, reiße die Frotteetücher aus dem Schrank und schlage sie so lange auf den Badewannenrand, bis sich der Stau etwas gelöst hat.‹ Eine andere Tochter hat die Mutter mit der Bürste geschlagen und weiß nicht weiter. Und da sagen wir, wollen Sie denn nicht mal einfach vorbeikommen, da können wir in Ruhe mal gucken, was gibt’s genau für Probleme, was gibt’s für Möglichkeiten der Lösung in Ihrem Fall. Das ist oft eine solche Erleichterung und Befreiung für die Leute, es ist unglaublich. Bei den Heimen ist es schon schwieriger. Manche Heime sind einfach beratungsresistent. Nach einer Beschwerde, bei bevorstehender Prüfung, stellen sie dann vorübergehend mehr Leute ein, wie of haben wir das gehört – die Prüfungen sind ja angemeldet –, vier Wochen später sind alle wieder weg. Jetzt muß ich leider mal was Negatives sagen über die sogenannte Heimaufsicht, die von ihrer Aufgabe vollkommen überfordert ist. Man kann nicht mit zwölf Personen über fünfhundert Heime beaufsichtigen in dieser Stadt, also, da sind auch Behinderte und Psychiatrie mit dabei, Altenheime sind es etwa dreihundert. Sie schaffen es höchstens, jedes Haus einmal in zwei Jahren zu sehen, und da zeigt man ihnen natürlich nichts! Die Einzigen, die für uns momentan wirklich ein große Hilfe sind, das ist der MDK, der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Die gehen wirklich, wenn es sein muß, auch nachts und unangemeldet in die Häuser, auch auf Grund von Beschwerden die wir hatten. Die sammeln die Beschwerden eine Weile, und dann gehn sie los, und die müssen eben auch eingelassen werden. Das finde ich klasse!
    So, jetzt hol ich einfach mal unser Buch, jeder eingehende Anruf wird da aufgeschrieben, also die wichtigsten Fakten usw. – und dann haben wir noch einen speziellen Auswertungsbogen, da ›stricheln‹ wir nur, damit wir vielleicht mal was Statistisches vorlegen können. Von diesen Bögen haben wir ganze Ordner voll, über 6000 sind es, aber das ist ein Schatz, den wir gar nicht heben können, dazu fehlt einfach das Geld. Neulich haben wir mal ganze Abende gesessen und drei Monate nur ausgewertet. Ich würde gerne mal eine richtige Untersuchung über Berlin machen, über bestimmte Auffälligkeiten, über bestimmte Heime, aber es geht nicht! Daß wir hier überhaupt so komfortabel in diesen schönen Räumen arbeiten können, das verdanken wir der Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion; das ist eine ganz lebhafte, auch politisch rührige Kreuzberger Institution, die bezahlt uns hier die Miete. So, jetzt habe ich unser Buch – mal sehn – ja, also eine Tochter ruft an, die Mutter ist im Heim und hat Angst vor dem Pfleger. Die Mutter ist als junge Frau vergewaltigt worden und möchte keine Intimpflege haben durch männliches Personal. Das wurde ihr beim Einzug zugesichert, man hat das aber irgendwie für Prüderie gehalten, jedenfalls haben nun dauernd zwei Pfleger allein auf dieser Station Spätdienst. Und ein anderer Fall, der sehr typisch ist, eine Tochter hat gegen das Heim, in dem die Mutter war, Anzeige erstattet wegen schwerer Körperverletzung. Sie hatte bereits drei Heime verklagt, in denen die Mutter im Laufe der Zeit lag, denn es hatte sich bei der Mutter ein schweres Dekubitusgeschwür entwickelt, das gar nicht, oder nicht gut, versorgt wurde und zuletzt sogar chirurgisch behandelt werden mußte. Wobei ich sagen muß, die Tochter ist sehr schwierig – aber was zählt, ist die Sache mit dem Dekubitus, und der ist nicht durchs Schwierigsein der Tochter entstanden!
    Zum Thema Dekubitus, was ein ganz wichtiges Thema ist, denn auch alle Formen der Verwahrlosung und Unterlassung sind Formen von

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