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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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haben dazu richtiggehend ein Seminar gemacht, auf der Straße, mit Demonstrationsobjekt. Und die Zuhälter haben wir weggeschickt und gesagt, es geht um Menstruation und Schwämmchen. Die Frauen brachten gebratenen Fisch mit und Wodka, das hatten sie von den Bauern besorgt. So ist es in Rußland üblich, wenn man zusammensitzt. Es wurde viel gelacht. In der Regel waren das damals meist Russinnen. Und Roma- und Sinti-Frauen aus Bulgarien. Die kommen mit ihrem gesamten Familienverband, der kümmert sich um sie, paßt auf, versorgt sie mit Wasser zum Waschen, mit frischen Sachen usw. Das müssen die anderen Frauen alles auch selber organisieren. Also, heute arbeiten wir mit Frauen aus der Ukraine, aus Rußland, Weißrußland, Kasachstan, mit Tschechinnen usw. und natürlich mit Polinnen. Alle haben natürlich ein Handy. Der Straßenstrich, auch hier im Grenzbereich, gilt als niedrigste Arbeit, höher angesehen ist die Arbeit im Bordell. Wobei ich denke, daß der Straßenstrich besser ist, da muß die Frau nicht animieren, nicht trinken, da geht’s um die reine Dienstleistung, 15 bis 20 Minuten. Allerdings gibt’s weniger Geld. Also, das war so die Hauptaufgabe, den Frauen in diesen Problemen beratend zu helfen. 80 Prozent unserer Arbeit haben wir im Grenzbereich gemacht, drei Riesen-Straßenstrichbereiche und Clubs, 20 Prozent der Arbeit war in Brandenburg. Wir hatten so um die 26 Bordelle, in die wir gingen, denn wir wußten ja, daß der Zuhälter in Brandenburg meinetwegen auch noch involviert ist in ›Begleitagenturen‹ auf polnischer Seite.
    Und 1995 passierte dann etwas Gravierendes, was unsere Arbeit grundlegend verändert hat: Wir wurden von einer jungen Zwangsprostituierten um Hilfe gebeten und haben versagt. Es war mein Fehler, es war schlecht gelaufen, schlecht getimt, und als wir endlich alles geregelt hatten, war sie nicht mehr da. Und da haben wir die Geschichte recherchiert, überall nachgefragt, und es stellte sich heraus, sie war siebzehn oder achtzehn, ist durch einen Freund da reingezogen worden, er hat sie zur Prostitution gezwungen, sie eingesperrt, überwacht usw. Und da wurde uns klar, wir haben es hier nicht nur mit Prostitution zu tun, mit Aids-Prävention und ein paar guten Tricks, wir haben es hier mit handfester Gewalt und Kriminalität zu tun, mit Menschenhandel und Zwangsprostitution. Wir brauchen ein völlig verändertes Hilfssystem. Und da habe ich ein Konzept geschrieben und bin damit zum Innenministerium und konnte sie sogar überzeugen. 1996 bekamen wir die erste Schutzwohnung hier finanziert. Und 1997 haben wir dann die Fachberatungsstelle ›Bella Donna‹ – auseinander geschrieben – für Opfer von Menschenhandel gegründet. Alles im Frauenhaus, unter der Trägerschaft von Belladonna e. V. Es gab auch Finanzmittel, so daß wir zwei Streetworkerinnen angestellt haben und ich die Gelegenheit hatte, mich aus diesem Arbeitsbereich zurückzuziehen. Ich hatte die Arbeit ja sehr intensiv gemacht und war immer mehr ins Grübeln gekommen mit mir selbst. Ich habe immer mehr das Gefühl bekommen, das ist schmutzig, und das haftet auch an mir. Meine Vorstellungen von Sexualität sind andere geworden, haben sich verändert, stark verändert, so daß ich z. B. vorsichtiger geworden bin. Also, dieses reine Fallenlassen, so wie es früher mal war, das war vorbei. Meine Kollegin, die Sylvia, hat damit überhaupt kein Problem, aber sie ist auch aktive Lesbe, d. h., sie hat keinen Bezug zur Mann-Frau-Sexualität, wie ich vielleicht. Ich konnte jedenfalls von Sex nichts mehr hören, und wenn dann auch noch mein Mann abends was wollte …« Sie lacht und sagt dann ernst: »Es hatte sich für mich was geändert. Ich wollte nicht mehr. Und ich wollte auch nicht das, was ich früher konnte, ich wollte nicht mehr darüber reden.
    Und da war das für mich wie eine Fügung. Ich sagte mir, mach, was dir am besten gefällt: Projekte zum Laufen bringen und dann an Mitarbeiter abgeben. Also bin ich raus aus der Streetworkarbeit und habe mich dem Auf- und Ausbau der Fachberatungsstelle gewidmet, die gesamten Außenverhandlungen geführt, bin reingegangen in die politischen Strukturen. Das mußte ja alles erst aufgebaut werden, zusammen mit anderen Personen und Institutionen, die sich auch mit der Hilfe für die Opfer von Menschenhandel und Gewalt in der Prostitution befaßt haben. Heute arbeiten wir eng zusammen mit dem Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, mit den Kommissariaten, dem LKA,

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