Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
war drinnen – also das lief alles. Dann muß ich noch dazusagen, 1994 habe ich mein Mandat abgegeben. Ich hatte schon Magenschmerzen; einerseits habe ich voll in der Praxis gearbeitet, und andererseits das Geeiere im Rathaus ständig gehabt. Dann kam noch eine Anfrage vom Ministerium, ob ich das ›Referat Frauenhäuser‹ übernehmen will, das hab’ ich gleich abgelehnt, ich zieh doch nicht nach Potsdam um! Ich bin auch kein Schreibtischmensch. Ich wollte das alles nicht mehr. Da habe ich der SPD- Fraktion und auch dem Stadtparlament geschrieben als Begründung, mein Anspruch und die Realität der Abgeordnetentätigkeit stimmen nicht überein, ich entscheide mich für die Praxis und gebe deshalb mein Mandat ab. Jetzt war ich alles los und konnte mich auf das Neue konzentrieren.«
Sie streichelt unseren Hund, der aufgewacht ist und sich eine kühlere Liegefläche sucht, zündet sich ein Zigarette an und fährt fort: »Ich habe beschlossen, die Streetworkarbeit mit Sylvia zusammen zu machen, wir beide kommen sehr gut klar. Das wurde für drei Jahre von der EU finanziert, angeregt durch die WHO, die ein Interesse hatte herauszufinden, wie sich bei einem solchen wirtschaftlichen Gefälle die sexuell übertragbaren Krankheiten ausbreiten, d. h., unser Auftrag war Aidsprävention und Daten sammeln über die medizinische Infrastruktur usw. Dann war aber das Problem, daß wir eigentlich keine Ahnung hatten von Streetwork und Prostituierten, da haben wir beschlossen, wir müssen kompetente Beratung einholen. Und so haben wir von ›Hydra‹, dem Prostituiertenprojekt aus Berlin, Hilfe bekommen. Eine Aussteigerin hat uns aufgeklärt über Sextechniken, also, worauf kommt es besonders an, wie ziehe ich unbemerkt ein Kondom mit dem Mund drüber, was ist und wie geht ›Falle schieben‹ – das eine Arbeitsmethode zur Vortäuschung des Geschlechtsverkehrs durchs Hinschieben der Hand – also, die Hurenorganisationen haben uns da sehr geholfen, auch ›Kassandra‹. Als wir uns dann einigermaßen ›fit‹ fühlten, sind wir los über die Grenze, hatten Sprachmittler dabei von der Universität Viadrina. Ja – aber wie erkennt man nun Prostituierte? Da stehn zwar Frauen, sehen schick aus, aber die sehen nicht aus wie im Westen, die haben keine Stiefelchen an, nicht diese Arbeitskleidung. Wir haben dann einfach gefragt, auf eine nette, akzeptierende Art, da konnten sie sich entscheiden, wollen sie mit uns reden oder nicht. Wir waren dann fast täglich auf dem Straßenstrich, auch in den Clubs, die anfangs reine Schmuddelclubs waren. Es hat etwa zwei Monate gedauert, dann waren wir drin. Wir hatten überlegt, wie ziehen wir uns an? Ich ging in Schwarz, mit langem Rock, Sylvia ging mehr sportlich. Und wir stießen auch auf so scheinbar kleine Probleme wie das, daß sie kein Gleitgel hatten. In Polen gab’s nur eine Fettcreme, aber die ist katastrophal, denn sie macht ja gleich das Gummi vom Kondom kaputt. Da haben wir also Gleitgel mitgebracht, in Fläschchen, die bekamen wir vom Sozialpädagogischen Institut kostenlos. Heute ist Gleitgel etabliert. Ich war immer so etwas zurückhaltend, wenn wir ins Bordell rein sind, aber Sylvia nicht, die hat gesagt zu den Zuhältern, wenn was vorlag: Also, hör mal, du kannst machen, was du willst, aber die Frauen werden nicht geprügelt! Behandle sie ordentlich, und wehe, ich komme das nächste Mal und sehe ein blaues Auge! Irgendwie ist das gut angekommen. Wir hatten einen Ruf. Wir haben uns auf die laufenden Geschäfte nicht schädlich ausgewirkt, vielleicht sogar im Gegenteil.
Es gab z. B. viele Nachfragen der Frauen wegen SM-Sex. Das war neu für die osteuropäischen Frauen, die waren ja keine Prostituierten, und zuvor gehörte das nicht gerade zu ihrem sexuellen Alltag. Es wurde aber immer mehr nachgefragt von den Freiern. Ebenso Sex ohne Kondom. Was wir auch noch gemacht haben, waren Selbstverteidigungskurse. ›Kassandra‹ hatte eine Tagung damals und am Ende wurde Selbstverteidigung angeboten. Das konnten wir dann weitergeben an die Frauen, damit sie wissen, was sie machen können bei Übergriffen, wenn Freier nicht bezahlen wollen oder noch mal Sex ›ohne‹, oder zum selben Preis wollen usw. Mir gefiel das gut mit der Selbstverteidigung. Wir haben uns darauf spezialisiert, mit den Frauen zu üben, z. B.: Wie zerlege ich das Auto eines Deutschen? Sein Lieblingsteil. Wo fange ich an? Am Kopfteil, an der empfindlichen Verkleidung, das merkt die Ehefrau am meisten! Wir
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