Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
kein Emissionsschutzgesetz. Wir sind mit dem Hubschrauber über Leuna und Buna geflogen und haben die Luftwerte gesammelt. Mein Chef hat rote Kreise drumrum gemacht, die durfte ich dann später wieder ausradieren. Das habe ich dann drei Jahre lang gemacht, und es hat mich wahnsinnig aufgeregt und verbittert, besonders auch, daß die in Leuna nachts die Filter ausgebaut haben, so daß ganz Halle nicht wußte, warum sie gehustet haben. Nach drei Jahren habe ich den Sinn meiner Existenz angezweifelt, ich konnte doch nicht zehn Jahre lang schweigend Werte ausradieren! Ich habe aufgehört und mich in der Psychiatrie beworben und wurde genommen. Nebenbei habe ich in der Freizeit Leute besucht im Gefängnis. Und so lernte ich auch Heike kennen; sie war in Bautzen, weil sie einen Bus angemalt hatte mit ›Laßt Biermann wieder frei!‹. Also, sie war hochgradig motiviert, und wir kamen auf die Idee, wir wollen doch jetzt Umweltmärsche organisieren in Buna und Leuna – inzwischen war auch meine Schweigepflicht fast um. Wir sind ständig in U-Haft gelandet, natürlich, es gab Hausdurchsuchungen, Leute standen vor der Haustür usw. Sie wurde ausgewiesen, und mich hatte man im Visier. Daran ist auch meine Ehe zerbrochen, weil er immer furchtbar gezittert hat. Meine Person war nicht mehr sicher, und da bekam ich über Stolpe einen Job bei der Kirche, im Wichernheim, damals zum Ende der DDR. Das war dann sozusagen der erste Schritt in die Zukunft. Hätte ich das alles nicht erlebt und gelernt, Belladonna wäre schon längst weg vom Fenster!«
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ENTFESSELUNGSKUNST
OLIVIA P.
»Die Diagnose ist eine der
häufigsten Krankheiten.«
Karl Kraus
Olivia P. (Pseudonym), Dipl.-Pädagogin, Mitarbeiterin i. »Weglaufhaus«, Berlin (Haus zum Schutz vor psychiatrischen Maßnahmen). 1968 Einschulung i. Berlin, 1974 Übergang z. Gymnasium, ab 1977 Schulfarm Scharfenberg, 1981 Abitur, 1982 Studium d. Erziehungswissenschaften a. d. TU Berlin. m. d. Schwerpunkt Sozialpädagogik (Studienschwerpunkt Frauenforschung bei Frau Prof. Thürmer-Rohr), 1987 Diplom (Diplomarbeit über: »Feministische Kritik an der Moral, die das Experiment am Menschen ermöglicht«). Danach div. Jobs m. Zeitverträgen, u. a. als Erzieherin, zeitweise Arbeitslosigkeit. Arbeit i. e. Mädchenprojekt, daneben berufsbegleitende Zusatzausbildung a. Kunsttherapeutin, 1996, Heilpraktikerinnen-Schein. Ab 2001 (neben d. Arbeit i. Mädchenprojekt) Tätigkeit als Einzelfallhelferin bei Support (gegr. v. Verein zum Schutz vor Psychiatrischer Gewalt e. V ., dem Gründer und Träger d. »Weglaufhauses«). Nach Kündigung d. d. Mädchenprojekt (wg. Sparmaßnahmen) Bewerbung u. Anstellung i. »Weglaufhaus«. Olivia P. wurde 1962 i. Berlin als Tochter einer medizinisch-technischen Assistentin geboren, sie ist ledig und hat keine Kinder.
Er ist omnipräsent und als sprachliche Metapher, die sich von selbst zu verstehen scheint, vollkommen gesellschaftsfähig. Er ist eine der meistgebrauchten Worthülsen, mit deren Hilfe der Konsument – spätestens seit 1989 – seiner Empfindung für das unbegreifliche Walten von Geschichte und Marktwirtschaft Ausdruck verleiht: der Wahnsinn. Das bleibt aber ohne Folgen. Die sind bereits eingetreten. Eine solide Besessenheit innerhalb des Rahmens ist durchaus erwünscht, repräsentiert Vernunft und Ordnung. Manische Persönlichkeiten wirken kompetent, besonders in den oberen Etagen der Gesellschaft.
Wer aber Stimmen hört, die nicht, wie allerorten üblich, aus dem Handy kommen, sondern aus dem eigenen Kopf, wer Werbebotschaften und Endlosberieselung nicht im Flughafenklo oder Aufzug hört, sondern sie sich nur einbildet, der hat ein Problem. Wer manisch vor aller Öffentlichkeit die Realität leugnet, Psychopharmaka konsumiert, eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit an den Tag legt, auf Fehlhandlungen beharrt und fremdgefährdendes Verhalten zeigt, ohne Politiker oder Mann der Wirtschaft zu sein, wird rigoros als pathologische Persönlichkeit diagnostiziert und bis zur Besserung der Symptome der Psychiatrie zugeführt.
Damit gerät der Betroffene in eine undurchschaubare Domäne ärztlicher »Heilkunst«. 95 Prozent der Patienten bekommen Psychopharmaka verabreicht, ein großer Teil davon in Form von Neuroleptika – trotz krankmachender, oft lebenslang fortbestehender Nebenwirkungen. Neuroleptika »fesseln« das ungewollte Erscheinungsbild, wirken als »chemische Zwangsjacke«, und damit wird ihre antipsychotische
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