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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Staatsanwaltschaft ab, mit der Ausländerbehörde, dann fuhr sie weg. Wenig später bekamen wir einen herzzerreißenden Anruf aus einem Krankenhaus in Litauen. Man hatte sie erneut entführt, dort, in eine andere Stadt, sie sollte sich bereit erklären, in Spanien oder Griechenland als Prostituierte zu arbeiten. Und als sie sich weigerte, hat man mit einer Kalaschnikow aufs Bett geschossen, und dabei wurde sie verletzt, am Oberschenkel. Sie hatte dann versucht, sich das Leben zu nehmen, ist aber gefunden worden. Wir haben uns wieder mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung gesetzt usw., sie zurückgeholt und gleich der Gerichtsmedizin vorgestellt, denn nur ein gerichtsmedizinisches Gutachten zu den Verletzungen zählt. Sie ist immer noch da, es geht ihr nach wie vor psychisch schlecht, wir machen ›Nachsorge‹. Sie hat ein Kind von einem deutschen Mann, lebt mit einem deutschen Mann, und kriegt jetzt ein zweites Kind von einem türkischen Mann. Sie sucht immer nach einer Entschuldigung irgendwie, ist aber natürlich unfähig zu einer, wie auch immer gearteten Partnerschaft. Um solche Frauen also kümmern wir uns, setzen ihre Ansprüche durch und begleiten sie.
    Zur Erfüllung des Tatbestandes Frauenhandel gehören Nötigung, Zwang und Täuschung. Natürlich sind nicht alle in der Prostitution arbeitenden Migrantinnen Opfer von Frauenhändlern, wie es immer in den Medien dargestellt wird. Viele werden aber nichtdestotrotz, aufgrund ihrer Lage, sozialen Situation, Illegalität, mit Verhältnissen konfrontiert, die sie in existenzbedrohende Abhängigkeiten bringen. Und für diese Probleme müssen politische Lösungen geschaffen werden, muß der Status der Frauen sich ändern, dafür setzen wir uns ein.«
    Wir möchten zum Schluß noch ein bißchen über ihre Kindheit und Jugend wissen. »Ach, als Kind wollte ich mal Lehrerin werden, für Mathematik und Chemie. Ich liebte es, wenn was knallte und explodierte. Aber es ist anders gekommen. Also, bis zu meinem fünften Lebensjahr war ich bei meinem Lieblingsopa, den Großeltern väterlicherseits. Das war ein Kommunistenhaushalt, mit Bäckerei und Landwirtschaft. Ab dem sechsten Lebensjahr kam ich dann zu meiner Mutter und ihren Eltern. Das war ein Beamtenhaushalt und von den Großeltern her ein Nazi-haushalt. Da paßte ich überhaupt nicht hin. Wäre das umgekehrt gewesen, hätte ich für mein Leben bestimmt miese Voraussetzungen gehabt. Ich bin eine Kämpfernatur geworden, durch meinen Lieblingsopa. Mit sechzehn habe ich etwas erlebt, das mich geprägt hat. Mehrere Mädchen meiner zehnten Klasse und ich sind am hellichten Tage mitten in Naumburg von russischen Soldaten mit Koppeln geschlagen und fast vergewaltigt worden. Am Ende haben wir alle im Krankenhaus gelegen. Die Kripo hat uns vernommen im Krankenhaus und gesagt, wir sollen keine Anzeige machen. Das fand ich ungerecht. Ich war empört. Daraufhin wollte ich aus der FDJ austreten. Man hat mich nicht gelassen, weil, ich war ja GOL-Sekretär der Schule. Und vor lauter Wut und Protest habe ich meinen FDJ-Ausweis genommen und angezündet beim Fahnenappell. Das hat aber immer noch nicht gereicht als Provokation. So habe ich dann bald darauf eine Fahne runtergerissen in der Stadt, vor den Augen eines Polizisten. Das war Mißachtung von staatlichen Symbolen. Ich mußte eine schriftliche Aussage machen bei der Polizei, und da habe ich reingeschrieben: Wenn Marx und Engels diesen Sozialismus sehen würden, dann würden sie sich im Grabe rumdrehen und heulen. Da kam ich dann sechs Wochen in Untersuchungshaft nach Halle. Mußte eine Zelle mit sieben kriminellen Frauen teilen – ich war sechzehn –, und ich war dermaßen entsetzt in diesen sechs Wochen, daß mich das verändert hat. Ich verlor meinen Studienplatz und bekam eine Menge Auflagen, sollte zu Hause bleiben usw. Also habe ich mit siebzehn ein Kind bekommen und konnte aus dem Haus gehen, hatte einen Mann. So kam ich zu meiner Tochter Mona. Die Sache hat nicht lange gehalten, ich habe mich getrennt und allein gelebt mit dem Kind, erst mal. Ich habe viel gearbeitet und meinen Mann kennengelernt. Die zweite Situation, in der ich gesehen habe, wie es wirklich ist, das war so 1975/76. Da habe ich beim Bezirkshygiene-Institut für Umweltschutz in Halle gearbeitet. Wir haben die Emissionswerte für Leuna und Buna gemessen. Ich war zur Geheimhaltung verpflichtet, hatte unterschrieben, daß ich die Werte nicht nach außen gebe, zehn Jahre lang. Es gab damals in der DDR

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