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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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dreißig. Es hat sich alles etwas abgemildert inzwischen; heute sind eigentlich, von der Einstellung her, alle antiatom. Und die Kinder von denen, die dafür waren – also jetzt generell –, die haben ihre eigenen Ansichten, die gehen heute auf die Demo. Wir sind eben hier im Landkreis zwangsläufig etwas anders. Ich vergesse das immer. Wenn man mal außerhalb irgendwo ist, dann sagen die Leute oft mitfühlend: ›Ach, Sie kommen aus Gorleben, da haben Sie ja immer diese Demonstrationen, ist das nicht schrecklich?‹ Und sie sind dann sehr irritiert, wenn ich, mit meinen 80 Jahren, sage: ›Im Gegenteil, ich bin dabei!‹ Worunter wir leiden, das ist die Politik und die Polizei. Den Leuten wird ja durch die Medien diese ›Idealvorstellung‹ vermittelt, hierher kämen ganz viele gewalttätige Demonstranten und die Polizei schützt uns vor denen . Es ist natürlich ganz anders. Daß der Castor geschützt wird, und zwar ausschließlich, das nehmen die nicht so wahr.
    Ich würde die Leute gern mal einladen. Die Castor-Transporte gehen ja hier genau vor meinem Haus vorbei, die Dorfstraße entlang, ich kann durchs Fenster alles beobachten. Das geht ja schon die Nacht vorher los, es ist ein absoluter Ausnahmezustand, dem wir unterworfen werden. Angekündigt wird es in der Zeitung, z. B. im Amtsblatt. Unsere Rechte werden außer Kraft gesetzt, der Regierungspräsident hatte ja die letzten Jahre z. B. immer einen Fünfzigmeterbereich rechts und links der Straße verfügt, der nicht betreten werden durfte in der Zeit. Bedenken Sie mal, auf unserem eigenen Grundstück! Das nennt sich ›demonstrationsfreier Raum‹, und dann gibt’s noch diverse Versammlungsverbote, ein Verbot, Leute zu bewirten, unterzubringen usw., man hat sie gar nicht im Kopf, die ganzer Vorschriften. Wozu auch, wir halten uns ja nicht dran. Also, die Castoren, die werden in Dannenberg vom Zug auf Tieflader umgeladen, es sind immer sechs, oder sind’s jetzt bereits zwölf sogar? Jedenfalls kommt ja zu allem auch noch dieser logistische Schwachsinn hinzu, das man das alles hier so über die Dörfer transportiert, statt auf Gleisen direkt in die Halle, wenn schon! Und für die Wegstrecke, da gibt es zwei Möglichkeiten, die werden abwechselnd gewählt, um die Demonstranten zu zersplitten. Also, entweder sie fahren die Hauptstraße entlang, oder sie fahren einen Umweg an der Elbe entlang, über Langendorf hierher. Aber im Zeitalter des Handys ist das für den Widerstand ja kein Problem mehr. Es finden auf der ganzen Strecke Protestaktionen statt, da machen alle soweit mit, die Bauern, die Anlieger usw. Es wurden ja auch schon Straßen untertunnelt, es fällt den jungen Leuten viel ein. Und dann schiebt sich natürlich eine Riesenvorhut vor den Castor. Wasserwerfer, Motorräder, Grüne Minnas, Hubschrauber kreisen im Tiefflug herum …« Sie holt Fotos vom Castor-Transport. »Da ist er drunter, der Castor, unter einer blauen Plane, die Fotos sind hier vom Haus aus gemacht. Das war früher, da hatte wir ja noch schönes Wetter, da war’s ja immer im Sommer. Im Frühjahr bzw. im Sommer, da kamen natürlich immer viele Demonstranten. Man hat die Transporte dann aus taktischen Gründen auf den November gelegt. Und nun raten Sie, zu welcher Uhrzeit sie hier durchkommen. Morgens um vier! Wenn sich dann also die Vorhut hier vorbeischiebt, dann schwimmt das ganze Dorf in Blaulicht. Unheimlich wirkt das. Und der Transport bewegt sich im Schrittempo, die Polizei muß ja an der Seite mitgehen. Das Ganze hat die Geschwindigkeit eines Leichenzuges … ja, damit kann man es vergleichen.
    Wir haben hier immer, nebenan, da wo unser Grundstück zu Ende ist, in genau gemessenem Abstand von der verbotenen Zone, da haben wir so ein Lager, mit Infozentrum und allem, da ist auch das Essen, es gibt Getränke. Viele hier vom Dorf helfen mit, die Bauern schmieren Brote, andere bringen Suppe usw. Da laufen dann auch die Meldungen zusammen. Es klingelt unser Handy, und jemand sagt z. B.: ›Wir sind hier eingeschlossen, könnt ihr uns was zu essen bringen?‹ So läuft das. Und wenn alles vorbei war, sich alles aufgelöst hatte, dann habe ich hier so einen großen Topf Suppe gekocht; es sind dann immer ganz viele, auch ganz fremde Leute im Haus, alle sind müde, hungrig, und empört natürlich. Na ja, aber ich muß ehrlich sagen, daß ich jetzt nicht mehr so viel mitorganisiere wie früher. Es ist ja immerhin jetzt schon die dritte Generation, die hier demonstriert, und

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