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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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im Gehirn usw., die hatten das in ihrer Statistik, sonst wäre der Fall verschwunden.
    Hier, anhand dieser Gewichtskurve, die wir jetzt im Rahmen unserer Studie angefertigt haben, könne Sie noch mal erkennen, wie das verlief.« Sieben ansteigende Kurven zeigen das Gewichtsspektrum gleichaltriger Kinder an. »Bei der Geburt war er noch in der Mitte, wie die meisten Kinder, und ist dann kontinuierlich rausgefallen, weit unterhalb der Norm. Die letzte große Zacke zeigt aufsteigend den Aufenthalt in der Pflegefamilie, dann kommt das Kind zur Mutter zurück, und es geht steil nach unten, bis zum Ende! Im Falle dieses Kindes ist es dann ein Jahr später zur Anklage gekommen, wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen – in den zwei Fällen, die aktenkundig sind – und wegen fahrlässiger Tötung. Die Mutter ist zu zwei Jahren Gesamtstrafe verurteilt worden – zur Bewährung. Das sind so die üblichen ›Preise‹. Zwei, vier, fünf Jahre, meist auf Bewährung.
    Das Strafrecht, das ist ja was Besonderes, also, die Richter müssen sich sicher sein, und wenn’s nicht 100 Prozent nachweisbar ist, wenn es kein Geständnis gibt … Also, ich war da am Anfang auch immer furchtbar wütend gewesen, über diese niedrigen Strafen. Aber die Richter müssen sich an die Beweise halten, die da sind. Und ich muß heute sagen, das ist eigentlich auch durch Strafe nicht zu regulieren, dieses Problem.« Wir fragen nach den familiären Umständen. »Also, die Mutter ist 1975 geboren, der Lebenspartner – er ist nicht der Kindesvater – ist 1973 geboren. Sie hat Hauptschulabschluß, die begonnene Lehre dann abgebrochen aus familiären Gründen – Pflege des Großvaters –, dann die zweite Lehre abgebrochen, wegen der Geburt eines Kindes – der älteren Schwester des verstorbenen Kindes. Sie hat immer von Erziehungshilfe und Sozialhilfe gelebt. Der Partner? Er war ebenfalls arbeitslos nach zwei abgebrochenen Lehren. Die Wohnverhältnisse waren, nach Auskunft des Jugendamtes – das die Besuche ankündigt –, geordnet und gepflegt gewesen.« Wir fragen: »Neues oder altes Bundesland?« Frau Dr. Böhm sagt seufzend: »Neues Bundesland. Leider. Das bestärkt wieder die Leute, die alles Schlechte hier auf die DDR-Kinderkrippen zurückführen möchten.«
    Wir bitten, uns noch etwas zu ihrer Biographie zu erzählen. »Also, mein Vater ist schon lange tot, seit 1993, der war Ingenieur. Meine Mutter ist Rentnerin, sie war Krankenschwester, daher war ich schon mit drei Monaten in der Krippe. Erinnerungen habe ich da gar keine. Später den Kindergarten und auch die Kinderferienlager fand ich furchtbar, man mußte immer das machen, was alle machen. Ich war lieber mit den Kindern aus unserem Hof zusammen. Ich habe noch eine Schwester, sie ist Krankenschwester. Ich war früher Röntgenassistentin, und dann habe ich noch mal mit 26 ein Studium angefangen, da hatte ich schon zwei Kinder. Das dritte bekam ich am Ende des Studiums. Einen Jungen. Ich wollte eigentlich Chirurgie machen und eine Praxis, Landarztpraxis, so was, das war meine Vorstellung. Dann kam aber zufällig der Prof. Vock und bot mir eine Stelle an, fragte, ob ich’s denn nicht mal versuchen will. Es hat mich schon interessiert. Rechtsmedizin interessiert ja jeden. Das sind die spannendsten Vorlesungen. Ich mache ja heute selbst Vorlesungen und sehe, wie die Studenten dasitzen, mit solchen Augen!
    Ich dachte, probiere ich’s mal, und bin eigentlich ›hängengeblieben‹. Nun bin ich hier Oberärztin, also im Prinzip Abteilungsleiterin für den Bereich Morphologie. Das sind Sektionen und eben Klinische Rechtsmedizin, d. h. ›Lebenduntersuchungen‹, wie ich schon sagte, Verkehrsmedizin, Messerstechereien, Vergewaltigung. Auch Frauen, die von ihrem Mann geprügelt werden; wir untersuchen sie und dokumentieren das als späteren Beweis, wir können ihnen auch Hilfen anbieten, können sie an ein Netzwerk weiterleiten, haben auch ganz enge Verbindung zum Frauenhaus. Also, es ist schon so, daß wir durch sorgfältige Untersuchungen auch den Lebenden etwas helfen können. Was wir noch machen, ist die vorgeschriebene Leichenschau in den Krematorien, vor der Verbrennung. Und was die Sektionen betrifft, so machen wir hier im Haus pro Jahr etwa 350; ich selbst habe eher weniger gemacht, in diesem Jahr waren es nur drei oder vier. Aber gesehen habe ich natürlich fast alle! Ja, also, ob ich mich an Leichen gewöhnt habe? Die Leiche selbst ist eigentlich nicht

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